Blutiges Eis
wenn er nicht wusste, woher er das wusste. Die simpelsten Wörter klangen einfach schön. Es machte ihn ein wenig neidisch, und er fragte sich, ob es Delorme mit Leuten aus Frankreich ähnlich erging, vorausgesetzt, sie war je welchen begegnet. Hawthorne war glatt, geschliffen, formvollendet – das waren die Begriffe, die einem zu ihm einfielen – auf eine Weise, wie es Kanadier niemals waren. Er nennt uns das ideale Mittelding zwischen Amerikanern und Engländern, dachte Cardinal, doch in Wirklichkeit fühlen wir uns von beiden eingeschüchtert.
»Ich bin noch nie wieder da gewesen«, sagte Hawthorne. »Ich meine, in dem Haus. Die CBC hat mich immer wieder gefragt, ob ich nicht mal mitkommen will. Pünktlich alle fünf Jahre ruft ein einfallsreicher junger Produzent an – die heißen grundsätzlich Mindy, wenn sie Anglo sind, und Lise, wenn sie Franko …«
»So heiße ich«, warf Delorme ein.
»In dem Fall«, sagte Hawthorne, »sollten Sie bei der CBC arbeiten.«
Delorme lachte.
»Jedenfalls klingelt, wie gesagt, alle fünf Jahre das Telefon, und Mindy oder Lise will wissen, ob es mir sehr viel ausmachen würde, ein bisschen in Erinnerungen zu schwelgen. Ein bisschen über meine Zeit bei den Terroristen zu erzählen und vielleicht einen kleinen Ausflug zu dem Haus zu machen, in dem es passiert ist. Vor laufender Kamera selbstredend.
›Eigentlich‹, lass ich sie wie Bartleby wissen, ›möchte ich lieber nicht.‹ Sie verstehen das als große Ermutigung. Sie sind wie ein ausgesetztes Tier, das bei jeder Zurückweisung nur noch anhänglicher wird. Die nächsten vier Wochen rufen sie unverdrossen immer wieder an, laden mich zum Mittagessen ein, zum Abendessen, bieten an, zu mir nach Hause zu kommen – als ob mich das umstimmen könnte –, und würden mir ihre Schwiegermutter verkaufen, wenn ich nur in ein Interview in diesem verfluchten Haus einwillige. Und ich hab es nie getan«, fügte er hinzu und verfiel in Schweigen, als sie in die Delavigne, eine schmale Straße mit Bungalows, einbogen. »Niemals.«
»Es tut mir leid, dass das nicht leicht für Sie ist«, sagte Cardinal. »Aber wie ich schon am Telefon sagte, sind wir dringendst auf Informationen angewiesen. Wir machen das nicht zum Spaß, wir wollen einen Mörder schnappen.«
»Ja, ja, sonst wäre ich nicht hier. Warten Sie, das hier ist die Straße, oder – Delavigne? Ja, das ist sie. Natürlich habe ich sie damals nie zu Gesicht bekommen. Nicht die Straße.«
»Hatten sie Ihnen die Augen verbunden?«, fragte Delorme.
»Im Wagen, ja. Und wissen Sie, was sie dafür benutzt haben? Eine alte Gasmaske. Hatten die Okulare geschwärzt. Konnte absolut nichts sehen. Aber ich kann Ihnen sagen, es hat mir Angst gemacht. Ich wusste ja nicht, dass es nur darum ging, dass ich nichts sehe. Dachte, die wollen mich mit Gas vergiften oder so. Ich meine, sie drückten mich auf den Rücksitz runter, drohten mir, und dann kommen sie mit diesem stinkenden Gummiding und stülpen es mir über das Gesicht. Nicht gerade dazu angetan, einen hoffnungsfroh zu stimmen.«
»Da wären wir«, sagte Delorme. Sie fuhr in die Einfahrt eines kleinen weißen Bungalows, vor dem ein kastanienbrauner Minivan parkte.
»Oh, Mann«, sagte Hawthorne.
Cardinal wollte aussteigen.
»Warten Sie eine Sekunde«, sagte Hawthorne. »Würde es Ihnen sehr viel ausmachen, noch einen Moment einfach sitzen zu bleiben? Es ist alles ein bisschen …«
Cardinal machte die Tür wieder zu.
»Oh, Mann«, sagte Hawthorne noch einmal. »Wissen Sie, dass ich, wenn ich zufällig hier vorbeispazieren würde, das Haus nie wiedererkannt hätte? Nie im Leben. Sicher, ich hab es ja unter dieser Maske auch nie richtig gesehen. Das heißt ja und nein. Als wir ankamen, habe ich aus den Augenwinkeln heraus an den Rändern der Maske ein bisschen sehen können. Und dann am letzten Tag, als sie mich schließlich von hier wegfuhren. Ich kam raus und wurde auf den Rücksitz ihrer alten Schrottkiste verfrachtet, und im Wegfahren habe ich es gesehen. Aber es sah damals ganz anders aus.«
»Es ist das Haus, Sir. Es ist dieselbe Nummer. Und ich hab mir die alten Zeitungsfotos angesehen. Der einzige Unterschied ist, dass sie einen neuen Carport angebaut haben.«
»Oh, Sie haben sicher recht. Es ist bestimmt das Haus. Das Problem ist nur, dass es in meinem Kopf, in meiner Erinnerung so ein Albtraum ist. Inzwischen natürlich nicht mehr ganz so schlimm, aber in den ersten fünf Jahren oder so, als ich noch dauernd davon
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