Blutiges Eis
schwer zu glauben? Weißt du, ich hab vierunddreißig Jahre für mich selber gesorgt, bevor du geboren wurdest, und ich bin vollkommen in der Lage, auch jetzt für mich selber zu sorgen. Der Strom wird in ein paar Stunden wieder da sein, und damit wird sich die ganze Diskussion von selbst erübrigen. Nicht, dass sie jetzt nötig gewesen wäre. Gute Nacht.«
»Ich bring ein bisschen mehr Brennholz auf die Veranda«, sagte Cardinal, doch sein Vater machte schon die Tür zu.
Als Cardinal vom Airport Hill Richtung Algonquin Bay abbog, das normalerweise wie eine Schachtel Rheinkiesel glitzerte, lag unter ihm ein schwarzer Tümpel. Es roch stark nach verbranntem Holz. Wenn der Mond zum Vorschein kam,konnte er sehen, wie die Rauchschwaden sich, jungen Bäumen gleich, nach Osten neigten, als ob die ganze Stadt nach Westen unterwegs wäre. Selbst die Ampeln waren aus. Auf seinem Weg zurück in die Madonna Road zählte Cardinal sechs Teams der Elektrizitätswerke.
Als er wieder nach Hause kam, blieb er eine Weile in der Auffahrt stehen und lauschte – er war sich nicht sicher, auf was. Falls Bouchard ihm auflauerte, dann sicherlich nicht in einer Nacht wie dieser. Aber er lauschte trotzdem. Es war kein Laut zu hören außer dem Klicken und Knattern der vereisten Zweige.
»Nichts zu machen, oder?«, fragte Catherine, kaum dass Cardinal zur Tür herein war.
»Nein. Lieber friert er sich da oben den Arsch ab, als eine Nacht im Haus seines Sohnes zu verbringen. Er hat keine Heizung außer dem Kamin. Und er hatte vor, auf dem Coleman zu kochen – eine sehr wirkungsvolle Methode, sich umzubringen. Wie dem auch sei, ich hab ein bisschen Brennholz auf die Veranda gelegt. Für die Nacht müsste er eigentlich zurechtkommen.«
»Jetzt setz dich erst mal, und ich wärm dir etwas Chili auf.«
»Sally schläft schon?«
»Hm. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich sie zu uns eingeladen habe.«
»Natürlich nicht. Du tust immer das Richtige.«
Catherine stellte die Schüssel mit dem Chili vor ihm auf den Tisch, und er erzählte ihr von Montreal. Er berichtete ihr von den Gesprächen mit den Akteuren der Krise vor dreißig Jahren, er erzählte ihr von dem Gefühl, als hätte er einen Sprung durch ein Zeitfenster gemacht, und wie er sie vermisst hatte.
»Ach, bevor ich’s vergesse«, fügte er hinzu. »Ich hab in Montreal mit einer anderen Frau geschlafen.«
»Ja?«
»Also, im selben Zimmer zumindest. Delormes Zimmerwurde überflutet, und das Hotel hatte nichts mehr frei. Bei mir stand ein zusätzliches Bett.«
»Lise sieht sehr gut aus.«
»Ja, kann man sagen.«
»Das muss eine ziemliche Versuchung gewesen sein.«
»Jedenfalls was anderes, als McLeod als Bettnachbar zu haben, so viel ist sicher.«
25
I n den frühen Morgenstunden setzte erneut Regen ein. Er fiel in großen Tropfen durch eine Kaltluftschicht dicht über dem Boden. Jeder Tropfen wurde, sobald er auf die bestehende Eisschicht traf, augenblicklich in noch mehr Eis verwandelt. Der Regen gefror auf den Dächern, er gefror auf den Autos. Er gefror auf den Straßenlaternen und den Highways. Er gefror an den Baumstämmen ebenso wie an den kleinsten Ästen. Er gefror an den Stromkabeln, den Briefkästen und den Ampeln. Er gefror auf dem Dach der Kathedrale und glasierte ihre Turmspitze und das Kreuz. Er gefror auf dem Holzfirst der modernistischen Synagoge und auf dem steinernen Torbogen im Ferris Park mit der Inschrift Tor zum Norden .
Cardinal hatte schon so manchen Eisregen erlebt, aber noch keinen wie diesen. Am Montag fuhr er im Schneckentempo zur Arbeit. Die Stadt war in einen gigantischen Kronleuchter verwandelt.
Er kam – natürlich mit einiger Verspätung – zur Arbeit und stellte fest, dass sich das Polizeipräsidium Algonquin Bay nicht nur mit einem Schutzschild aus Eis gewappnet hatte, sondern auch in eine Art gedämpfte Stille hüllte. Eine Reihe von Leuten, wie zum Beispiel der ganze Bautrupp, erschien nicht zur Arbeit, und so lag eine angenehme Ruhe über dem Haus.
Irgendwo pfiff irgendwer, vermutlich Chouinard, und Nancy Newcombe, die Hüterin der Asservatenkammer, ermahnte jemanden, neben seiner oder ihrer Unterschrift das Datum (und bitte leserlich) einzutragen. An dem Schreibtisch neben Cardinal murmelte Delorme ins Telefon. Es erstaunte Cardinal immer, wie leise Delorme berufliche Gespräche führen konnte. Es klang immer, als ob sie einem Liebhaber Geheimnisse ins Ohr flüsterte, obwohl sie nur wie jeder andere auch ihre
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