Blutiges Eis
Ich glaube, er hat wieder die alten Tricks versucht – diesmal mit dem Foto hier –, und ich glaube, diesmal hatte er es auf Yves Grenelle abgesehen.«
»Yves Grenelle unter anderem Namen, meinen Sie.«
»Unter anderem Namen und dreißig Jahre danach. Vermutlich unter einem frankokanadischen Namen. Tatsächlich könnte Grenelle derjenige sein, der verhindern wollte, dass Rouault und Hawthorne mit uns reden. Vielleicht war das gar nicht der CSIS.«
»Sie haben beide gesagt, dass es ein älterer Mann war«, sagte Delorme. »Aber Hawthorne war sich nicht sicher, ob er Frankokanadier war.«
»Aber Rouault. Wen haben wir demnach?«
»Paul Bressard? Aber den haben Sie schon überprüft, richtig?«
»Bressard ist nicht alt genug. Der muss 1970 neun oder zehn gewesen sein. Natürlich wäre da noch Dr. Choquette. Er passt vom Alter her, und er war sauer auf Winter Cates.«
»Der ist es nicht. Er hat mehrere Zeugen, die mit ihm Karten gespielt haben, als Dr. Cates entführt wurde. Glaubwürdige Zeugen außerdem.«
»Also, Miles Shackley kommt her, um Yves Grenelle zu erpressen, der hier schon Gott weiß wie lange unter einer neuen Identität lebt. Er verabredet sich mit ihm, zeigt ihm, was er hat, und es kommt zu einem Kampf. Shackley wird getötet, aber auch Grenelle wird verletzt.«
»Wenn ich versuchen würde, jemanden zu erpressen, würde ich ihm, glaube ich, eine Pistole unter die Nase halten.«
»Ich auch. Vielleicht greift Grenelle danach und wird angeschossen, aber dann gelingt es ihm, Shackley zu töten. Die Leiche wird er im Wald los, und den Wagen versenkt er. Er versucht, so zu tun, als wär nichts, aber ihm sitzt eine Kugel im Fleisch oder er hat zumindest ein Loch abgekriegt, das zu groß ist, als dass er es selber versorgen könnte.«
»Er muss einen Arzt finden, so viel wissen wir schon. Das bringt uns immer wieder zu derselben Frage: Wieso Winter Cates?«
»Da wird’s schwierig. Sie ist neu in der Stadt, somit kommen nur Nachbarn und Patienten in Frage – die alle, wie wir wissen, eine weiße Weste haben. Aber inzwischen wissen wir wenigstens, wie der Täter vor dreißig Jahren ausgesehen hat. Und wir kriegen, was immer bei Miriam Stead rauskommt.«
»Ich weiß, wie ich vor dreißig Jahren ausgesehen habe: Ich hab Schneeanzüge mit Mickymouse-Ohren getragen. Und Sie?«
»Ich hatte Haare bis zu den Schultern.«
»Das glaube ich nicht.«
»Tatsache. Ich hatte eine John-Lennon-Frisur.
McLeod kam um den Raumteiler herum und sah diesmal ganz gegen seine Natur nachdenklich aus.
»Was ist?«, fragte Cardinal. »Sie gucken ja, als hätten Sie zum Glauben gefunden.«
»Diese Cates-Geschichte – Sie sagen, der Täter hat so getan, als wäre es Vergewaltigung, aber es hat keine Vergewaltigung gegeben?«
»Sie war nackt, und der Mörder hat ihr die Kleider vom Leib gerissen, aber es gab keine Anzeichen für Penetration. Das ist natürlich noch kein Beweis. Wieso? Woran denken Sie?«
»Alter Fall von mir. Vor vielleicht zehn Jahren. Eine Frauenleiche, die draußen gefunden wurde, nackt, die Kleider völlig zerrissen, aber keine Anzeichen für Penetration.«
»Kann nicht vor zehn Jahren gewesen sein – das müsste ich wissen.«
»Dann meinetwegen zwölf. Das war, bevor Sie aus Toronto zu uns kamen. Mann, wir haben uns den Arsch aufgerissen, um den Fall zu lösen, und wir hatten einfach kein Glück. Hatten am Ende nichts in der Hand. Absolut nichts. Hab mit Turgeon daran gearbeitet.« Dick Turgeon war ein alter Hase, der jahrelang McLeods Partner gewesen war. Er war genau zwei Wochen nach seiner Pensionierung gestorben – was McLeod bis heute zu endlosen philosophischen Erörterungen veranlasste.
»Sie erinnern sich wohl nicht mehr an den Namen des Opfers? Oder sonst etwas, das uns nützen könnte?«
»Fällt mir bestimmt wieder ein. Sie war Mitte dreißig, gut aussehend. War erst ein paar Monate in der Stadt.« McLeod schnippte mit den Fingern. »Ferrier. Sie hieß Ferrier.«
»Madeleine Ferrier?«
»Madeleine Ferrier. Woher wissen Sie das?«
»Hat uns eine kleine Coquette verraten«, sagte Delorme. Sie setzte McLeod mit wenigen Worten über die hochgeschätzte Informantin des CAT-Teams ins Bild. »Simone Rouault zufolge war Madeleine 1970 bei der FLQ. Sie spielte eine höchst untergeordnete Rolle, hat eine kleinere Strafe verbüßt und sich danach von allem distanziert. Ist nach Ontario gezogen.«
»Das stimmt«, sagte McLeod. »Ich erinnere mich, dass siekein unbeschriebenes Blatt war.
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