Blutiges Eis
Flughafen LaGuardia ins Zentrum registrierte er die riesenhafte Ausdehnung der Stadt, ihre erdrückende Skyline, den beängstigenden Fahrstil ihrer Bewohner. Doch er konzentrierte sich auf das, was er zu tun hatte, und nahm sich vor, von New York nur so viel Notiz zu nehmen wie eben nötig.
Howard Matlock – der wahre Howard Matlock – hatte noch nie etwas vom Loon Lodge gehört. Das war nicht verwunderlich, denn Howard Matlock hatte ja auch noch nie etwas von Algonquin Bay gehört. Tatsächlich hatte Howard Matlock seit 1996, als er ein Wochenende in Quebec verbrachte (Zauberhaft, die Stadt! So europäisch! So billig für Amerikaner!), keinen Fuß mehr auf kanadischen Boden gesetzt, und Howard Matlock hatte nicht das geringste Interesse am Eisfischen. Das Einzige, was an Cardinals Daten über Howard Matlock stimmte, waren sein Name, seine Anschrift und seine berufliche Tätigkeit.
Matlock wohnte auf dem zweiten Stock eines kleinen Mehrfamilienhauses auf der Upper East Side von Manhattan. »Viel zu ›upper‹, um noch zum Nobelviertel zu gehören«, erklärte er Cardinal an der Tür, »aber bis ich meine erste Million verdient habe, reicht’s nicht zu mehr.«
Er war ein schlanker Mann Mitte fünfzig mit sehr kurzem Haar, um den spärlichen Wuchs zu kaschieren. Seine erste Million schien nicht in Sicht. Seine Wohnung beschränkte sich auf zwei Zimmer, die mit Chrom und Glas karg eingerichtet war. Man fühlte sich eher wie in einem Büro als in einer Privatwohnung.
»Ihre seltsame Suche schreit nach einem Kaffee«, sagte Matlock. »Trinken Sie einen?«
Cardinal sagte Ja. Während Matlock sich an einer winzigen Küchenzeile zu schaffen machte, nutzte Cardinal die Gelegenheit für einen Anruf bei Malcolm Musgrave. Er hatte den Sergeant schon am Vorabend über Squiers Scheinermittlung informiert.
Musgrave hatte mit der ihm eigenen Eloquenz reagiert. »Dieses kleine Arschloch. Dem spring ich mit dem nackten Hintern ins Gesicht.«
Cardinal hatte Musgrave gebeten, seine Beziehungen zu den Dinosauriern bei den Mounties im CSIS spielen zu lassen und Namen und Anschrift des falschen Matlock herauszufinden. Offensichtlich enthielt der CSIS ihnen diese Information aus unerfindlichen Gründen vor.
»Ich hab seit gestern Abend jemanden drangesetzt«, sagte Musgrave jetzt. »Geben Sie mir noch ungefähr eine Stunde.«
Als Cardinal aufgelegt hatte, reichte ihm Matlock eine dampfende Tasse Kaffee und eine kleine Schale Kekse sowie eine Serviette, die säuberlich unter dem Löffel steckte.
»Sie sind vermutlich kein Mountie, oder?«
»Nein. Ich bin beim Kriminalkommissariat Algonquin Bay.«
»Ich habe einen Freund, der vor Neid platzen würde, wenn ich ihm erzählen könnte, ich hätte einen Mountie kennen gelernt. Probieren Sie mal einen, hab ich selber gebacken.«
Es war ein Haferrosinenkeks. »Sie machen tolle Kekse. Das reicht glatt für den Supermarkt.«
»Sie werden lachen, daran hab ich sogar mal gedacht. Nur kann ich Supermärkte leider nicht ausstehen.«
»Hören Sie, Howard. Könnten Sie mal in Ihrer Brieftasche nachsehen, ob Sie irgendwelche Kreditkarten oder irgendeinen Ausweis vermissen?«
»Ich habe nachgesehen, während Sie telefonierten. Es fehlt nichts. Beim Führerschein hätte ich es vielleicht nichtgemerkt – ich meine, niemand fährt in Manhattan Auto. Aber meine Kreditkarten? Keine Chance. Meine Kreditkarten und ich haben ein inniges Verhältnis.«
Demnach hatte der Tote neue Papiere zu Matlocks Daten beantragt, oder aber er hatte gewusst, wo er sich Fälschungen besorgen konnte. Sehr gute Fälschungen.
»Der Mann, der Ihre Identität benutzt hat, ist auf Sie gekommen, weil Sie ungefähr in seinem Alter sind. Fällt Ihnen jemand ein, der im Lauf des letzten Jahres Zugang zu Ihren persönlichen Daten gehabt haben könnte?«
»Also, jeder, für den ich die Steuererklärung mache, hat meine Sozialversicherungsnummer unten auf dem Formular stehen. Aber ich habe eine Menge Klienten.«
»Sie haben von allen die Geburtsdaten, oder? Können Sie wohl Ihre Unterlagen nach Männern durchsuchen, die nicht mehr als drei Jahre älter oder jünger sind als Sie?«
»Das haben wir gleich, ich werf mal einen Blick auf meine Datenbank. Nehmen Sie noch ein paar Kekse.«
Wenig später stand Howard Matlock mit einem Computer-ausdruck in der einen Hand, einem Keks in der anderen im Zimmer. »Ich habe drei Klienten männlichen Geschlechts in ihren späten Fünfzigern – Namen, Adressen und Telefonnummern –,
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