Blutiges Eis
aber ich sollte sie Ihnen wirklich nicht geben. Das wäre ziemlich ungehörig.«
»Ich habe hier in New York natürlich keine Befugnisse; ich kann Sie nicht zwingen, sie mir zu geben. Aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass jemand, der Ihre Identität stehlen will, Ihnen seinen wirklichen Namen und seine richtige Adresse gibt. Ist Ihnen jemand von den dreien gut bekannt – ein langjähriger Klient?«
»Zwei davon, ja. Einer ist ein Dokumentarfilmemacher, der andere ist ein Location-Scout – ich habe fast nur Kundschaft aus den darstellenden Künsten. Beide kommen seit über zehn Jahren zu mir.«
»Und der Dritte?«
»Nun, das kommt drauf an«, sagte Matlock lächelnd. »Haben Sie schon Pläne fürs Abendessen?«
Cardinal wusste nicht, was er sagen sollte. Er fühlte, wie ihm die Röte die Wangen hochstieg.
»Also wirklich, ihr Kanadier. Da kennen Sie keine Menschenseele in der Stadt, und ich biete Ihnen ein Abendessen in einem wunderschönen Restaurant mit einem charmanten Profiwie mir an. Gütiger Himmel, Mann, ich bin achtundfünfzig, ich bin vollkommen harmlos.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, brachte Cardinal heraus. »Aber ich bin im Moment knapp bei Kasse.«
»Ach so, na ja. Fragen kostet nichts.«
»Wollen Sie mir den dritten Namen geben?«
»War nur ein Verzweiflungsakt. Ich hatte nur zwei.«
In der Nähe der U-Bahn-Station auf der Sechsundachtzigsten machte Cardinal kurz in einem Starbucks halt und rief Musgrave auf dem Handy an.
»Ich hab einen alten Freund beim CSIS Ottawa«, erklärte Musgrave. »Franzose namens Tourelle. Muss fünfundsechzig sein oder um den Dreh. Ist schon ewig beim Geheimdienst. Ohne die McDonald-Kommission wäre er schon vor Jahren Inspektor gewesen. Stattdessen hat er bei der Mutter aller bürokratischen Einrichtungen seine kleine Nische gefunden.
Na jedenfalls«, fuhr Musgrave fort, »Onkel Tourelle hat mir was geflüstert. Der CSIS hat, wie Sie vielleicht wissen oder auch nicht, ein wachsames Auge auf die großen Flughäfen. Sie unterhalten ein Vollzeitbüro am Pearson, genau wie Zoll und Personenkontrolle.«
»Was? Mit mehreren Leuten?«
»Wie wär’s mit sechs? Tourelle weiß nicht, ob sie einen Tipp gekriegt haben oder nicht. Vermutlich ja. Wär’n bisschen viel Zufall auf einmal. Jedenfalls, sie werfen einen Blickauf die Glückspilze, die gerade mit diesem speziellen Flieger aus New York angekommen sind. Sie behaupten, die Personenkontrolle hätte diesen so genannten Matlock eine Minute lang festgehalten. Er protestiert wie wild, muss einen anderen Flieger kriegen, die übliche Leier. Also, um die Sache kurz zu machen, sie ignorieren im Prinzip den Führerschein, den sie sich angucken, aber die Fingerabdrücke, die sie darauf finden, die ignorieren sie nicht.«
»Hat der CSIS seine eigenen Vorstrafenregister?«
»Die kriegt er von uns oder der örtlichen Polizei, von euch. Aber sie haben ihre eigenen Dossiers – nicht wirklich Register, weil es gewöhnlich nur um Verdachtsmomente, keine wirklichen Straftaten geht. Wir haben es hier mit Geheimdiensten zu tun, dürfen Sie nicht vergessen, mit Paranoia, mit einem Sumpf, verstehen Sie?«
»Und die haben den passenden Mann dazu.«
»Junge, Junge, das können Sie laut sagen. Der Name: Miles Shackley. Derzeitige berufliche Tätigkeit: unbekannt. Frühere berufliche Tätigkeit – halten Sie sich fest: CIA-Agent in Quebec.«
»Wo in Quebec? Wann? Wie lange ist das her?«
»Tourelle sagt, dreißig Jahre. Also 1970, genauer gesagt. Montreal.«
»Dreiunddreißig Jahre. Dann hat seine frühere Tätigkeit wahrscheinlich nichts mit seiner Ermordung in Algonquin Bay zu tun, richtig?«
»Vermutlich nicht.«
»Wann hat er die CIA verlassen?«
»1971 steht auf dem Aktendeckel.«
Cardinal überkam plötzlich ein Gefühl der Ohnmacht. »Das sieht ganz nach einer Sackgase aus.«
»Da stimme ich Ihnen zu. Dreißig Jahre sind ne verdammt lange Zeit. Allmählich sollte sich für Sie das Blatt bei diesem Fall mal wenden, was?«
»Wieso hat uns Squier dann über ihn was vorgelogen? Wieso wollte der CSIS aus Shackleys wahrer Identität ein großes Geheimnis machen?«
»Weil Calvin Squier ein schnöseliger kleiner Schwachkopf mit einem Laptop ist. Weil er für die nutzloseste Behörde auf diesem Planeten arbeitet. Keine Ahnung. Alles, was Tourelle mir erzählt hat, weiß er nur aus dem Kennsatz – er hatte keinen Zugang zu der eigentlichen Akte. Darin erfährt man was über sein politisches Lager, wo er woran
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