Blutiges Eis
boxen und an die Gurgel und so, bis der Mieter ihn wegzieht. Wenn ich gesehen hätte, ich hätte die Polizei gerufen. Na ja, also, was ist mit Mr. Shackley?«
»Er wurde von Bären aufgefressen.«
»Verarschen kann ich mich selber. In New York?«
»In Kanada. Keine Sorge, hier kann Ihnen nichts passieren.«
»Bären. Madre , ich dachte, Kakerlaken wären schlimm.«
»Wie lange hat Shackley hier gewohnt?«
»Er war schon da, als ich hier angefangen hab, und bei mir sins schon zwölf Jahren.«
Sie hatten den dritten Stock erreicht. Cardinal folgte Robles bis ans Ende des Flurs. Im Gehen zog der Verwalter ein Schlüsselbund aus der Tasche und betrachtete es, indem er es sich in einigem Abstand vor die weitsichtigen Augen hielt. An der Tür zu 3B prangte ein quadratisches Schild von zirka siebzig mal siebzig Zentimetern, auf dem in handgeschriebenen Buchstaben Keine Speisekarten stand. Robles fand den richtigen Schlüssel und machte die Tür auf. »Wenn du noch was brauchst, weißt du, wo mich findest.«
Cardinal schob die Tür auf und ging hinein. Es roch nach schmutzigem Teppich. Die Wohnungen von kürzlich Verstorbenen hatten immer etwas Trauriges, Hoffnungsloses an sich. Cardinal war schon in vielen gewesen, und noch in keiner hatte er ein gutes Gefühl gehabt. Shackleys Ein-Zimmer-Appartement allerdings war die deprimierendste Bleibe eines Verblichenen, die er je gesehen hatte.
Er betrachtete den billigen Schreibtisch aus lackiertem Kiefernholz, auf dem ein Telefon, ein rissiger Henkelbecher mit Kugelschreibern und Bleistiften stand, ein Kalender, auf dem der vorige Donnerstag angekreuzt war – der Tag, an dem Shackley nach Toronto geflogen war. Der Schreibtisch, nein, das ganze Zimmer, war ordentlich, aber schmutzig; unter den Schuhen knirschte Sand. Neben der Schreibtischlampe war eine saubere Stelle von der Größe eines Laptops. Entweder hatte Shackley ihn mitgenommen, oder Squier war zuerst hier gewesen.
Cardinal machte die mittlere Schreibtischschublade auf: noch mehr Kugelschreiber und Bleistifte und ein Sammelsurium an Bürobedarf. Er öffnete eine Seitenschublade, ohne mehr zu finden als billige Briefumschläge und eine RolleMarken sowie einen halb leeren Schreibblock. Er hielt den Block gegen das Licht, doch auf dem oberen Blatt waren keine Schreibspuren zu erkennen. Der Papierkorb unter dem Schreibtisch war leer. Er hob die Lampe hoch, das Telefon, den Henkelbecher mit den Stiften. Nichts. Auch unter der Schreibtischplatte war nichts zu finden.
Ein kurzer Blick ins Badezimmer brachte ebenso wenig Erkenntnisse, und dasselbe galt für den Schrank in der Kochnische. Shackley hatte offenbar im Wesentlichen von Müsli gelebt. Im Schrank befanden sich vier verschiedene Packungen, deren Ecken von Mäusen angenagt und ausgefranst waren.
Cardinal war noch selten auf eine derart fade Lebensweise gestoßen. Natürlich konnte das Absicht gewesen sein – die Art von perfekter Tarnung, von der man in Spionagethrillern las –, aber vermutlich eher nicht. Die Trostlosigkeit wirkte zu echt. Er stand still und horchte. Weiter den Flur hinunter sang Van Morrison hysterisch. Noch weiter weg kläffte ein kleiner Hund.
Cardinal ging zum Aktenschrank. Zwei Schubladen, größtenteils leer. Es gab noch ein paar Hängeschränke – Steuererklärungen (nicht von Howard Matlock erstellt, wohlgemerkt), Sozialversicherungsformulare, Bankauszüge und Zahlungsbelege. Die Sozialversicherung schien Shackleys einzige Einnahmequelle zu sein – ein paar hundert Dollar im Monat. Rechnungen: Kabelfernsehen, Strom, Telefon. Cardinal zog die Telefonrechnungen der letzten drei Monate heraus. Sie verzeichneten Ferngespräche unter drei verschiedenen Nummern mit Montrealer Vorwahl. Stätte seines früheren Wirkens. Cardinal steckte die Telefonrechnungen in seine Aktentasche.
Die nächste Stunde verbrachte Cardinal damit, sämtliche Bücher, Notizen und Briefe durchzugehen, die er finden konnte. Nichts. Er öffnete die Rückseite des Fernsehers, des Radios und untersuchte sogar den Tiefkühlschrank. Dannstellte er sich in die Mitte des Zimmers und versuchte den einen Gegenstand auszumachen, der hier nicht hingehörte. Er brauchte eine Weile. Doch irgendwann fiel sein Blick auf das Gitter des Lüftungsschachts. Das kleine Rechteck befand sich direkt über dem Herd und war, im Unterschied zur übrigen Wohnung, makellos sauber. In einem alten Gebäude wie dem hier, dachte Cardinal, würde man erwarten, dass der Lüftungsschacht
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