Blutiges Eis
Und die hier?«
Mrs. Theroux nahm das Gruppenfoto in die Hand. »Ach, sehen die jung aus! Sie waren ja auch jung! Der hier vorne ist Bernard – er muss damals neunzehn gewesen sein. Mein Gott, wie mager er da ist. Der an der Seite, mein Gott, das ist Yves Grenelle.«
»Yves Grenelle?«
Mrs. Theroux hatte unwillkürlich die Hand vor den Mund gelegt.
»Wer ist Yves Grenelle?«
»Nein, das ist er nicht. Ich muss mich vertan haben.«
»Aber Sie waren sich sicher, dass es Yves Grenelle ist. Wollen Sie mir nicht einfach erzählen, was Sie von ihm wissen?«
»Das kann ich nicht. Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.«
»Nein. Ich muss Sie über diesen Mann befragen.« Delorme hielt Miles Shackleys Bild von 1970 hoch. »Sagt Ihnen der Name Miles Shackley etwas?«
»Nein, und ich erkenne den Mann auch nicht wieder.«
»Es gibt zweierlei, das Sie wissen sollten, bevor Sie mir antworten, Mrs. Theroux. Zum einen, dass dieser Mann vor weniger als einem Monat bei Ihnen angerufen hat. Zum anderen, dass er ermordet wurde.«
Mrs. Theroux sah eine Weile lang zur Decke hoch und atmete schwer. Sie stand auf und ging nach nebenan, um die Tassen und Kekse wegzubringen. Kinderstimmen riefen ihren Namen, bettelten, sie solle zu ihnen kommen und mit ihnen zeichnen. Sie kam in die Küche zurück und stellte energisch das Tablett auf die Arbeitsplatte.
»Bernard hat nie jemanden umgebracht«, sagte sie. »Er hatte nichts mit einem Mord zu tun.«
»Entschuldigen Sie, aber Ihr Mann wurde im Mordfall Raoul Duquette verurteilt. Und er hat ein Geständnis abgelegt.«
»Er wurde wegen Menschenraubs verurteilt, nicht wegen Mordes. Und sein Geständnis wurde nicht vor Gericht verwendet.«
»Mrs. Theroux. Ein Mann, von dem bekannt ist, dass er in die Oktoberkrise verwickelt war, hat letzten Monat bei Ihnen angerufen. Dieser Mann ist jetzt tot. Ihr Mann war schon einmal in einen Mordfall verwickelt. Es wäre möglich, dass er auch diesmal etwas damit zu tun hat.«
»Hören Sie: Mein Mann hat niemals irgendjemanden ermordet. Ich sag’s noch einmal. Bitte notieren Sie sich das. Schreiben Sie’s in Ihr Notizbuch, in Ihren Computer, meißeln Sie es irgendwo ein – irgendwo, wo Sie es nicht vergessen können, denn das ist die reine Wahrheit: Mein Mann hat niemals jemanden getötet.«
»Sie beziehen sich auf Raoul Duquette?«
Mrs. Theroux gab einen langen Seufzer von sich und ließ sich in einen Sessel fallen. »Ja. Ich meine Raoul Duquette.«
»Die Gerichtsmedizin hat nachgewiesen, dass er erdrosselt wurde. Ihr Mann hat ausgesagt, dass er Duquette zu Boden gehalten habe, während Daniel Lemoyne ihn erdrosselte.«
»Sie haben ein Bild von Bernard. Er war neunzehn. Er wog 120 Pfund. Wissen Sie, wie groß Duquette war? Er war eins achtundneunzig, wog 190 Pfund, ein ehemaliger Football-Spieler. Mein Mann hat ihn nicht zu Boden gedrückt.«
»Mrs. Theroux, dem Minister waren die Hände auf dem Rücken gefesselt. Er war bereits eine Woche in Gefangenschaft.«
Ein kleiner Junge kam in die Küche marschiert und hielt ein Stück Zeichenpapier wie ein Geschenk vor sich. »Françoise, ich hab ein Bild für dich.«
»Oh, das ist wunderschön, Michel«, sagte Mrs. Theroux und neigte sich vor, um das verschwommen blaue Wasserfarbengemälde besser zu sehen. »Wer ist das auf dem Bild?«
»Das ist mein Vater. Er ist Polizist.«
»Dann musst du es Officer Delorme hier zeigen – sie ist auch bei der Polizei.«
Der Junge staunte Bauklötze. »Du bist bei der Polizei?«
»Ja, ich bin Polizistin.«
»Vermutlich hat er noch nie eine Polizistin gesehen. Michel, willst du Officer Delorme dein Bild auch mal zeigen?«
Der Junge drehte sich langsam zu Delorme um und hielt unsicher das Bild hoch. Es bestand aus zwei blauen Farbklecksen und einem kräftigen schwarzen Strich.
»Das ist sehr gut«, sagte Delorme. »Man sieht, dass er ein ausgezeichneter Officer ist.«
Der Junge wandte sich wieder zu Mrs. Theroux um, das Bild hatte er vergessen. »Françoise, liest du uns jetzt was vor?«
»Gleich, Michel.« Mrs. Theroux schloss die Tür hinter ihm. Sie bot Delorme noch Kaffee an und schenkte sich, als ihr Gast dankend ablehnte, selbst noch einmal ein. Sie setzte sich wieder an den Tisch und rührte langsam in ihrer Tasse. »Ich will nicht, dass Sie noch mal wiederkommen«, sagte sie endlich. »Unser Frieden hier ist zu brüchig, zu schwer erkauft. Gewisse Erinnerungen sind wie Erdbeben, sie können jederzeit wieder hervorbrechen. Also, ich werde Ihnen
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