Blutiges Eis
alles erzählen, was ich weiß, und ich will nicht, dass Sie meinen Mann damit quälen. Und dann will ich Sie nie wiedersehen.«
»Ich weiß nicht, was Sie mir erzählen werden. Ich kann Ihnen nichts versprechen.«
»Ich hätte Ihnen auch nicht geglaubt, wenn Sie mir Versprechungen gemacht hätten. Aber ich werde Ihnen erzählen, was damals wirklich passiert ist, und dann brauchen Sie nicht wiederzukommen. Falls Sie es doch tun, werden Sie kein Wort mehr aus mir herausbekommen. Niemand kennt die wahreGeschichte. Es war, als ob sie sich bereits auf eine Version verständigt hätten, bevor überhaupt jemand verhaftet wurde. Aber hören Sie mir gut zu, ich erzähle Ihnen, wie es wirklich war.
Zuallererst mal müssen Sie begreifen, dass wir alle zueinander absolut loyal waren. Das galt für jeden von uns in der FLQ, wir waren absolut und unerschütterlich loyal, aber Bernard und Daniel Lemoyne ganz besonders. Sie lernten sich damals bei einer Demo kennen. Bei einer davon – vielleicht war es die für die Seven-Up-Arbeiter, ich weiß nicht, oder vielleicht die Taxifahrer – jedenfalls wurde Bernard verletzt und blutete am Kopf, wo so ein Bastard von Polizist ihn mit dem Gummiknüppel getroffen hatte. Tut mir leid, aber –«
»Schon in Ordnung. Ich habe keinerlei Sympathie für gewalttätige Cops.«
»Jedenfalls, da sitzt er nun blutig geschlagen in einem Gefangenenwagen. Daniel Lemoyne hat sein eigenes Hemd zerrissen, um daraus einen Verband für ihn zu machen.«
»Waffenbrüder«, sagte Delorme.
»Waffenbrüder, ganz richtig.« Sie hielt zwei gekreuzte Finger in die Luft. »Sie wurden unzertrennlich. Aber es vergeht kein Tag, an dem ich nicht wünschte, sie wären sich nie begegnet. Ich kann nicht sagen, wie es bei Lemoyne wäre – ich glaube, er wäre immer gleich gewesen, egal, mit wem er zusammen war –, aber ich bin sicher, dass Bernard niemals jemanden entführt hätte, wenn er Lemoyne nicht begegnet wäre. Bernard war immer für Gemeinschaftsaktionen, er wollte Leute mobilisieren. Geheime Verschwörungen waren seine Sache nicht. Aber irgendwie wurde es eine gemeinsame Obsession, dieses Kidnapping.«
»Eine Obsession, die sie mit Yves Grenelle teilten, nicht wahr? Wieso ist sein Name bisher nie aufgetaucht?«
»Yves Grenelle wurde nie geschnappt, nie für irgendetwas vor Gericht gestellt.« Die Frau nahm plötzlich einen anderenGesichtsausdruck an. Sie blickte auf ihre Hände herab, als ob sie darin einen zerbrechlichen Bildschirm hielt, auf dem die Ereignisse aus ihrer Jugend abgespielt wurden. »Das war Teil der Abmachung, verstehen Sie.«
»Abmachung?«
»Unter den Mitgliedern der Zelle. Es war wie Blutsbrüderschaft. Die Abmachung war, dass jemand, der der Polizei entwischte, niemals erwähnt wurde – nicht gegenüber den Cops, nicht gegenüber der Presse, gegenüber niemandem. Es sollte so sein, als hätte er oder sie nie existiert.
Und genau das passierte mit Yves Grenelle. Er wurde nicht zusammen mit den anderen geschnappt. Nachdem Raoul Duquette ermordet worden war, war er wie vom Erdboden verschluckt. Seitdem hat nie wieder jemand von ihm gehört. Wahrscheinlich hat er sich nach Frankreich abgesetzt – das haben viele getan, als ihnen der Boden hier zu heiß unter den Füßen wurde. Meistens kamen sie zurück. Aber von Grenelle hat man nie wieder etwas gesehen.«
»Wie kam er in die Zelle, dieser Grenelle? War er ein Freund Ihres Mannes? Von Lemoyne?«
»Er muss ein Freund von Lemoyne gewesen sein. Bernard kannte ihn nicht. Ich glaube, Simone Rouault hatte ihn ein, zwei Jahre davor mit Lemoyne bekannt gemacht. Mit der sollten Sie reden, wenn Sie was über Mitgliederwerbung wissen wollen. Sie war so schön, sie hätten Poster von ihr machen können, und die Mitgliederzahlen hätten sich über Nacht verdreifacht. Sie brachte eine Menge junge Männer rein. Sie gab der Revolution ein hübsches Gesicht, einen schönen Mund. Und natürlich ist sie mit jedem ins Bett gegangen.«
»Den Namen hab ich schon gehört. Haben Sie ihr nahe gestanden?«
»Wir kamen ganz gut miteinander aus. Aber wir sind uns nicht oft über den Weg gelaufen, weil wir immer darauf geachtet haben, nicht zusammen gesehen zu werden. Aber die warschon was, ein richtiges Original.« Bei der Erinnerung schüttelte Mrs. Theroux den Kopf. »Sie trank grundsätzlich nichts anderes als Champagner. Französischen Champagner – Veuve Cliquot, darunter tat sie’s nicht. Und sie rauchte unentwegt Gitanes. Ich hasse die Dinger.
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