Blutiges Eis
tatsächlich vor einem Monat hier angerufen. Ein Fremder. Er hat sich als Yves Grenelles Cousin aus Trois-Rivières vorgestellt. Bernard sagt, Grenelle käme tatsächlich aus Trois-Rivières, ob er allerdings irgendwelche Cousins hatte oder nicht, wer weiß das schon? Jedenfalls sagte dieser Cousin, sein Vater sei gestorben und ein Teil des Grundbesitzes solle an Yves gehen, ob wir wüssten, wo er ihn finden kann. Wir waren sogar misstrauisch, aber wer würde jetzt noch nach ihm suchen? Die RCMP? Die wussten nicht mal von seiner Existenz.«
»Was haben Sie ihm gesagt, dem Fremden, der nach Grenelle suchte?«
»Bernard ist drangegangen. Er hat ihm gesagt, er hätte noch nie von einem Yves Grenelle gehört.«
Delorme warf einen letzten Blick auf die Küche, die Kinderzeichnungen und ließ noch einmal die Atmosphäre harmloser Häuslichkeit auf sich wirken. »Danke«, sagte sie. »Ganz herzlichen Dank.«
»Mein Mann wird niemals mit Ihnen sprechen, und jetzt habe ich Ihnen alles gesagt, was ich weiß. Ich hoffe, Sie kommen nicht wieder.«
»Nein, das wird nicht nötig sein.«
Mrs. Theroux verschwand, auf Geheiß einer Abordnung von drei Kleinkindern, in einem anderen Zimmer, um ihre Pflicht als Chefvorleserin des Beau Soleil Centre zu erfüllen. Delorme zog die Haustür hinter sich zu.
Draußen hatte der Regen nachgelassen, und die Straßen von Montreal glänzten sauber und wie neu.
21
A ls Cardinal nach seinem nutzlosen Besuch bei dem ehemaligen Korporal Sauvé in die Stadt zurückfuhr, rief er Catherine an, von der er erfuhr, dass sein Vater aus dem Krankenhaus entlassen worden und nun wieder zu Hause war.
»Ich hab ihn gebeten, erst mal zu uns zu kommen, aber er wollte nichts davon hören. Ich hab es nicht forciert. Du weißt ja, wie er ist.«
»Wie geht’s ihm deiner Meinung nach?«
»Nicht schlecht, wenn man bedenkt … Ein bisschen wacklig auf den Beinen, aber er ist ein zäher alter Bursche.«
Cardinal erzählte ihr, dass er vermutlich am nächsten Tag zurück sein würde.
»Du solltest nicht zu lange warten. Es regnet, und wie’s aussieht, bekommen wir noch eine Schicht Eis. Könnte ziemlich scheußliches Reisewetter geben.«
Cardinal hatte sich mit Delorme in einem Café auf der St-Denis verabredet, aber er war etwas früher da, und es nieselte schon wieder, und so stellte er sich in einer der Malls unter der Ste-Catherine unter. Natürlich haben die meisten modernen Städte solche unterirdischen Einkaufszentren, und in Städten mit langen Wintern erfreuen sie sich besonderer Beliebtheit. Doch Montreal verbirgt eine ganze Zivilisation unter seinen Straßen. Geschäfte aller Art – Apotheken, Kaufhäuser, Tabakhandlungen, Pelzläden – reihen sich meilenweit aneinander. Cardinal verstand, wieso, besonders an einem Regentag wie diesem und noch mehr bei dreißig Grad minus – aber Spaß machte es ihm nicht. Unter der Erde fühlte er sich, trotz der üppigen Dekorationen, bedrückt, und in der Beleuchtung sahen die Passanten erschöpft und unzufrieden aus.
Er gelangte an eine Kreuzung so groß wie ein Flughafen und sah sich die Straßenschilder genau an; unter der Erdewar es schwer, sich zu orientieren. Ein Kosmetikladen fiel ihm ins Auge, und er stand eine Weile vor dem Schaufenster und überlegte, ob es etwas gab, das er Catherine mitbringen konnte. Er entdeckte ein Eau de Cologne namens Torso, mit einer entsprechenden Flasche, aber es erinnerte ihn zu sehr an Autopsien.
Um eins verließ er die Mall und traf, wie verabredet, Delorme im Tasse-Toi-Coffeeshop. Es war eine winzige Crêperie für Touristen. An der Decke hingen Streichholzbriefchen aus aller Welt als Souvenirs. Die Klientel schien gänzlich aus riesigen Texanerinnen zu bestehen.
»Gott, bin ich froh, Sie zu sehen«, sagte er zu Delorme.
»Ich weiß, dass Sie nicht ohne mich leben können, Cardinal. Das ist der einzige Grund, warum ich mitgekommen bin.«
Sie bestellten jeder eine Crêpe Spezial des Tages und einen Kaffee, Cardinal entkoffeiniert.
»Wie lief’s bei Bernard Theroux?«
»Ich hab nicht mit ihm, sondern mit Françoise Theroux gesprochen. Ich glaube, das war nur von Vorteil.«
Cardinal hörte ihr schweigend zu und machte sich ein paar Notizen. Er lehnte das Foto der jungen FLQ-Mitglieder gegen seine Kaffeetasse. »Er heißt also Yves Grenelle, und Miles Shackley hat kurz vor seinem Tod nach ihm gesucht. Das heißt, wenn wir Madame Theroux glauben dürfen.«
»Sie ist eine Frau im mittleren Alter mit einer
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