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Blutiges Eis

Blutiges Eis

Titel: Blutiges Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giles Blunt
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Hautfalten versteckt waren, standen so weit auseinander, dass sie ihr in jüngeren Jahren einen Ausdruck von frühreifer Klugheit verliehen haben mussten.
    »Ich hatte eine Intensität«, sagte sie in nüchternem Ton, »ich hatte etwas Leidenschaftliches an mir, gepaart mit der nötigen Distanziertheit, die die Leute offenbar faszinierend fanden.« Sie fasste unter Schmerzen in ein Bücherregal undholte ein Foto herunter, auf dem eine junge Frau in die Kamera lacht. Sie hatte wunderschöne Zähne und eine verlockend volle Oberlippe, und ihre großen grauen Augen waren absolut strahlend.
    »Am Strand. Im Sommer 1970. Ich war einunddreißig.« Und somit war sie jetzt in ihren Sechzigern. Man hätte sie eher auf etwa achtzig geschätzt. »Osteoporose, Arthritis, das ganze Programm«, sagte sie, als ob sie Cardinals Gedanken erriete. »Mochte noch nie Milch. Aber die hier umso mehr.« Sie zog eine Schachtel Gitanes heraus und zündete sich eine an. Dann nahm sie mit einer ausgetrockneten Klaue das Foto wieder an sich und zeigte mit dem Finger auf das Bild – nicht auf ihr junges Gesicht, sondern auf die Wolken im Hintergrund der Aufnahme, den Hügel zur Linken, das Laub zur Rechten. »Sehen Sie das? Wissen Sie, was das ist? Oder besser gesagt, was das war?«
    Cardinal zuckte die Achseln. »Sie sagten, Sie waren am Strand.«
    »Schon wieder diese Wortklauberei. Ihr zwei solltet heiraten. Ich hab auf meine Zukunft gezeigt. Das meinte ich. Damals hatte ich noch eine. Wären Sie so nett?« Sie hielt ihr Glas hin, und Cardinal füllte es auf. Sie nahm zitternd einen Schluck und hielt das Glas auf ihrem Schoß. »Meine Zukunft«, sagte sie noch einmal. »Seltsam, der Gedanke, dass dieser Körper – dieses Gesicht, dieses Zimmer – schon seltsam, dass dies hier meine Zukunft war. Hätte ich das damals gewusst, hätte ich mir gleich einen Strick um den Hals gelegt. Sie bringen doch ein bisschen Zeit mit?«
    Cardinal und Delorme nickten.
    »Das ist ein großer Luxus, Zeit zu haben. Bon . Ich habe Ihre Aufmerksamkeit, ich habe meine Zigarette, ich habe ein volles Glas. Dann lassen Sie mal eine alte Dame erzählen, wie ihre Zukunft dahingegangen ist.
    Ich war neunundzwanzig. Eigentlich nicht besonders alt.Aber damals bedeutete Jugend alles. Jung zu sein wurde als eine Ehre betrachtet, so wie man umgekehrt früher einmal so tat, als wäre es eine Leistung, alt zu sein. Beides völliger Unfug. Man ist so alt, wie man ist, und man hat keinen Einfluss darauf. Damals, ich meine 1968, 1969, standen Sie ab dreißig mit einem Fuß im Grab. Die Beatles waren am Höhepunkt ihres Ruhmes. Alles war verrückt nach Trudeau – und warum? Weil er jung war und gut aussah. Wie Kennedy. Telegen. Es gab sogar eine Regierungsorganisation, die sich die Gesellschaft junger Kanadier nannte. Natürlich verbarg sich dahinter ein völlig unproduktives Programm, das die hohen Arbeitslosenziffern vertuschen sollte, aber es klang so romantisch.
    Fünfzig Prozent der Bevölkerung waren unter dreißig, und das hieß, wir hatten Macht. Bei solchen Zahlen mussten die Politiker uns zuhören. An den Universitäten streikten die Studenten, um ihre Lehrpläne zu ändern, ja sogar, um bei der Besetzung von Professorenstellen mitzureden. Und natürlich die endlosen Protestmärsche gegen den Vietnamkrieg. Es waren radikale Zeiten.
    Man ging zu einer Demo, einem Sit-in, und Sie finden keinen Menschen, der über dreißig ist – oder nur eine Hand voll. So ein berauschendes Gefühl, von Tausenden von Leuten umgeben zu sein, die alle so aussehen wie du. Die alle dasselbe sagen, dasselbe singen, an dasselbe glauben. Natürlich hat das auch etwas Beängstigendes: So viele Menschen, die alle dieselben Sachen tragen – Bomberjacken und Blue Jeans, Batik-T-Shirts und Blue Jeans, indische Seide und Blue Jeans –, und alle sagen dasselbe. George Orwell wusste schon, wovon er redet.«
    Sie nahm einen Schluck Champagner und einen tiefen Zug an ihrer Zigarette. Sie atmete langsam aus und hing der Rauchwolke nach. »Ich hatte panische Angst vor dem Altwerden. Es war die Zeit, in der ich lebte. Nicht nur meine eigene Neurose. Das ist Punkt eins. Punkt zwei: Ich hatte jung und unglücklichgeheiratet. Mein Mann hielt sich für einen großen Künstler, aber außer ihm konnte das niemand so sehen, und er hat es an mir ausgelassen. Jedenfalls war es irgendwann vorbei, und als ich dreißig wurde, fühlte ich mich völlig ausgelaugt.
    Ich war bereits zu alt, um in der Studentenbewegung

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