Blutiges Eis
verhaften Sie mich.« Sie hielt ihm die verkrümmten, gequälten Handgelenke entgegen.
»Wir sind nicht gekommen, um Sie zu verhaften.«
»Das will ich auch verdammt noch mal hoffen. Dann müssten Sie nämlich gleich die ganze RCMP mit einsperren. Meine Gefährten kamen ins Gefängnis. Meine Liebhaber kamen ins Gefängnis. Selbst mein bester Freund kam ins Gefängnis. Aber ich blieb frei. Dafür gibt es Gründe.«
»Das ist uns bekannt«, sagte Cardinal. »Um ehrlich zu sein, wundert es mich, dass Sie noch in Montreal leben, und unter Ihrem richtigen Namen.«
»Sehen Sie mich an. Was können sie mir jetzt noch anhaben? Reinplatzen und eine kleine alte Dame erschießen? Meinetwegen können sie kommen. Ist mir egal.«
»Nun, wir hoffen, dass Sie uns –«
Sie unterbrach ihn. »Wissen Sie, dass ich eigentlich nicht mit Ihnen reden darf?«
»Die Ereignisse, für die wir uns interessieren, liegen dreißig Jahre zurück. Ich glaube nicht, dass Sie nach so langer Zeit noch Geheimhaltungsvorschriften verletzen.«
»Da ist der CSIS offenbar anderer Meinung. Sie haben mich heute Morgen angerufen und mich angewiesen, Ihnen nichts zu sagen.«
»War das Calvin Squier am Telefon?«
»Er hat mir seinen Namen nicht genannt. Ein älterer Mann. Frankokanadier. Er hat gesagt, ich würde die nationale Sicherheit gefährden, wenn ich Ihnen irgendwelche Auskünfte gäbe. Ich fühle mich denen nicht im Mindesten verpflichtet.
Sehen Sie, wie ich lebe. Ich möchte bezweifeln, dass Detective Lieutenant Jean-Paul Fougère so gelebt hat wie ich – in New Brunswick oder wo sonst zum Kuckuck er seinen Ruhestand verbracht haben mag, bevor er das Zeitliche gesegnet hat. Der CSIS ist der gleiche Haufen unter anderem Namen. Hätten sie nicht angerufen und mir gedroht, hätte ich vielleicht nicht mit Ihnen geredet, aber jetzt können sie mich mal.«
Delorme griff in ihre Tasche und zog die längliche Packung heraus. »Ich hab von Françoise Theroux gehört, dass Sie das hier mögen.«
Die Frau nahm die Packung und betrachtete sie wie einen Gegenstand von äußerster Seltenheit. Museumswürdig. Mit Mühe zog sie die Flasche heraus und hielt sie wie ein Neugeborenes im Arm.
»Geht’s ihnen gut, den Theroux?«
»Sie scheinen nicht schlecht zu verdienen.«
»Gott hat Sinn für Humor, nicht? Der Mörder, der verdient gut, und ich bin ein Fall für die Wohlfahrt.«
»Wir müssten etwas über diese Person erfahren«, sagte Cardinal. Er reichte ihr das Bild von Shackley als jungem Mann.
Sie betrachtete es eine Weile ausdruckslos, bevor sie es zurückgab. Ein zartes Lächeln huschte über ihre trockenen, brüchigen Lippen, und sie schüttelte langsam den Kopf hin und her. »Ich könnte Ihnen was erzählen.« Sie neigte den Kopf in Richtung des Champagners. »Können Sie mir den aufmachen, ja?«
Cardinal nahm die Flasche und fing an, die Folie zu entfernen.
»Immer wieder schön, nicht wahr?«, sagte sie zu Delorme, »einem starken Mann dabei zuzusehen, wie er mit seinen Händen arbeitet.«
Delorme ließ die Bemerkung unkommentiert.
»Die Gläser sind da drüben, mein Junge.« Sie wies auf einmetallenes Regalfach über dem halbhohen Kühlschrank. »Wollen Sie nicht mittrinken?«
»Würde ich gern«, sagte Cardinal. »Aber leider …«
»Ja, sicher. Zu schade. Geht natürlich nicht, dass betrunkene Mounties durch die Gegend rennen, nicht wahr?«
»Wir sind keine Mounties«, sagte Delorme.
»Das war metaphorisch gemeint, meine Liebe. Sie dürfen nicht alles so wörtlich nehmen.«
Cardinal brachte die Flasche und ein trübes Champagnerglas. Er goss es für sie voll und stellte die Flasche ab.
Die Frau hielt sich das Glas für einen Moment unter die Nase und sog den Duft ein. »Veuve Cliquot«, sagte sie. »Jedermanns Lieblingswitwe.«
»Veuve heißt Witwe«, sagte Delorme zu Cardinal.
»Danke. So viel hab ich auch verstanden.«
»Es gab Zeiten, da hab ich nichts anderes getrunken.« Ms. Rouault nahm einen kleinen Schluck, hielt das Glas vor sich hin und betrachtete die Farbe, bevor sie noch einmal nippte. »Hat sich überhaupt nicht verändert – im Unterschied zu mir.«
Cardinal und Delorme warteten.
»Ich war schön«, sagte sie. »Das müssen Sie zunächst mal wissen. Ich war sehr schön.«
»Das ist nicht schwer zu erraten«, sagte Cardinal. Wenn auch von violetten Äderchen überzogen, so waren die hohen Wangenknochen noch immer zu erkennen. Die anmutig geschwungenen Brauen. Die grauen Augen, die jetzt fast ganz unter
Weitere Kostenlose Bücher