Blutiges Eis
spontanen Impuls folgt – den Umschlag, den ich in der Hand halte.
Bis dahin war alles vollkommen reibungslos gegangen, bis Grenelle, ohne jeden Grund, meinem Chef einen heftigen Schlag auf den Kopf versetzt. Ich glaube, er benutzte einen Totschläger. Mein Chef hatte nichts getan. Er hatte sich kein bisschen widersetzt. Aber Grenelle haut ihm das Ding über den Schädel, und er ist bewusstlos. Es war einfach dumm, wissenSie, denn damit ging es nun nicht mehr nur um bewaffneten Raubüberfall, sondern um schweren Raub, grundlos. Und mein Chef, na ja, ich mochte ihn nicht gerade – er kniff mich immer und gaffte mich an –, aber ich hatte auch nichts gegen ihn. Jedenfalls wollte ich nicht, dass er für drei Tage ins Krankenhaus muss, aber genau das passierte. Das ist nicht wie im Film, wo du was auf die Rübe kriegst und zwei Minuten später rumläufst, als wär nichts gewesen.«
»Wie hat die FLQ auf Ihr Mitwirken reagiert?«, fragte Cardinal.
»Oh, sie haben mich mit offenen Armen empfangen. Labrecque sagte, er hätte sie noch nie so begeistert gesehen. Natürlich hat er auch ganz schön davon profitiert, dass er mich rekrutiert hatte. Sie hatten fünftausend Dollar erbeutet und ahnten nicht, dass es alles gekennzeichnete Scheine waren. Dafür liebten sie mich.«
»Und sind Sie Grenelle wiederbegegnet?«
»Als Lebrecque mir mitteilte, ich sei aufgenommen, war das Erste, was ich sagte, dass ich nie wieder mit Grenelle zu tun haben wollte. Idiotische Gewalt.«
Ms. Rouault goss sich Champagner nach. »In den folgenden Monaten benutzten sie mich in erster Linie, um neue Mitglieder zu werben. Sie verlangten nie irgendetwas Extremes von mir. Meistens saß ich im Café Chat Noir – das war der Treff der Aktivisten – und wartete, bis irgendein junger Separatist mich anbaggerte. Wir redeten dann über die Revolution, und früher oder später engagierte er sich für die FLQ. Es ist erstaunlich, wo man reingeraten kann, wenn man verliebt ist.
Die größte Ironie ist allerdings, dass ich kein bisschen durchschaute, was sie mir antaten. Sehen Sie, von der ersten Nacht an behandelte mich Detective Fougère wie seine große Liebe. Er war so gut zu mir, so aufmerksam, so sehr um meine Sicherheit besorgt. Natürlich war ich mit diesem Doppelleben die ganze Zeit in Gefahr. Ich nahm abends an einemFLQ-Treffen teil, und zwei Stunden später habe ich alles Wort für Wort an das CAT-Team weitergeleitet. Ich hatte die ganze Zeit Angst. Meine Nerven waren ruiniert. Ich schlief kaum. Konnte nichts essen. Leute wie Hibert, wie Grenelle meinten es verdammt erst. Es gab nicht den geringsten Zweifel, dass sie mich getötet hätten, sobald sie erfahren hätten, was ich machte.
Jedenfalls, es dauerte nicht lang, bis ich mich mit Haut und Haaren in Fougère verliebte.« Einen Augenblick lang ließ sie den Kopf hängen. Cardinal wollte ihr gerade mit einer Frage auf die Sprünge helfen, als der silbrige Kopf wieder hochschnellte und die grauen Augen leuchteten. »Ich lebte nur noch für unsere Treffen. Das waren die einzigen Gelegenheiten, bei denen ich mich nicht verstellen musste, verstehen Sie, wo ich rückhaltlos und ohne Angst die Wahrheit sagen konnte. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was für eine Erleichterung das nach einigen Monaten war.«
»Das kann ich mir gut vorstellen«, sagte Delorme. »Das muss wie eine Droge gewesen sein.«
»Genau das, meine Liebe.« Ms. Rouault nickte und löste einen erneuten Ascheregen aus. »Beides machte süchtig. Dieses Doppelleben – Sie glauben nicht, wie ich die Macht genoss, die ich plötzlich besaß. Wie wichtig ich war! Die sitzen gelassene kleine Hausfrau riskierte auf einmal ihr Leben und rettete dabei ihr Land. Natürlich wusste Fougère, dass ich Separatistin war, aber das war ihm egal. Wir wollten beide der FLQ ein Ende bereiten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
Und er war so nett zu mir, so zärtlich.« Sie hielt wieder inne, die Zigarette in der Luft. Die grauen Augen blickten in unbestimmte Ferne, als schwebte Fougères Gesicht irgendwo in der Rauchwolke. »Einfach nur seine Hand zu halten bedeutete mir so viel. Ich fühlte mich so sicher, so beschützt. O ja, er spielte auf mir wie auf einer Violine.
Bon . Die ganzen Monate über galt Jean-Pauls Interesse nicht Labrecque. Ein viel zu kleiner Fisch, um sich damit abzugeben. Auch nicht Grenelle – ein Renommist, wie er sagte. Nicht wichtig genug. Er wollte durch mich an Claude Hibert herankommen. Hibert stand nicht in
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