Blutiges Gold
die er gestohlen hatte.
Er war verdammt.
Er legte das Buch zur Seite und starrte unruhig auf den schweren Goldring, dessen Bogen aus geflochtenen Goldketten kalt im Mondlicht glänzte, das durch sein geöffnetes Fenster hereinflutete. Es war hell genug, um zu lesen – mit gesunden jungen Augen –, aber nicht hell genug, um die rote Färbung der gewaltigen Felswände zum Vorschein zu bringen, die hinter seinem heruntergekommenen Häuschen aufragten.
Touristen legten sehr viel Geld hin, um in pinkfarbenen Jeeps oder staubigen offenen Pick-ups über das raue Land gefahren zu werden. Er hatte das nie verstanden. Die Sonne war andernorts genauso schön. Der Himmel war genauso blau. Doch Besucher kamen in Scharen nach Sedona, um mit all den anderen Besuchern überfüllte Kraftwirbelpfade zu begehen, über die bereits Abertausende alternder New Ager getrampelt waren.
Virgil hatte früher selbst versucht, über diese Pfade zu gehen, als er noch hoffte, das Verhängnis, das seit seiner verbotenen Zweitagestour nach Wales über ihm lastete, abwenden zu können. Aber egal, wie viele der Kraftwirbelpfade er gegangen war, egal, wie intensiv er sich darum bemüht hatte, sich für das Übersinnliche zu öffnen – immer war er von den Pfaden in dieselbe Realität zurückgekehrt, die er verlassen hatte.
Irgendwann hatte er gelernt, sich eines Channels zu bedienen. Zwar kostete eine einstündige Sitzung bei so einer Person, die als Medium arbeitete, mehr als ein Ausflug in ein schickes Bordell, doch mit siebenundsechzig hatte er keinen großen Bedarf mehr an Huren. Außerdem war es viel einfacher, mithilfe eines Channels an die entferntesten und mächtigsten Kraftorte zu gelangen – an diejenigen, die in den bunten Broschüren nicht verzeichnet waren, die man für zehn Dollar das Stück kaufen konnte, aber nicht das Papier wert waren, auf das sie gedruckt wurden. Für ihn war es viel einfacher, sich eines Channels zu bedienen, als das verdammte Gold selbst berühren und so der Hölle seiner eigenen Schreie lauschen zu müssen.
Die Zeiger zitterten und klappten übereinander wie die Enden eines Fächers.
Mitternacht. Halloween.
Samhain, wenn alle Grenzen verschwammen.
Jetzt musste es geschehen.
Nach zwei Anläufen zwang er sich, den Halsring anzufassen. Seine Haut zog sich heftig zusammen beim Versuch, vom kalten Gold wegzukommen. Er war sicher, entfernten Donner zu hören, ganz weit weg in Wales, Blitze zuckten durch seine zur Faust verkrampfte Hand, sengend, brennend, zerstörerisch …
Das Gellen seiner eigenen Schreie weckte Virgil aus dem Zustand, in den er gefallen war. Es war die Hölle gewesen – das war zumindest alles, was er dazu sagen konnte. Er hatte die Hölle gesehen und berührt und hatte nun allergrößte Angst, für immer und ewig darin bleiben zu müssen.
»Kann’s nicht alleine«, sprach er in die Dunkelheit. »Brauche ein Channel. Brauche es jetzt .«
Einige Minuten blieb er so, das Gesicht in den Händen vergraben, dann strich er sich mit zitternden Fingern durchs dichte weiße Haar und sammelte Kraft, um erneut der Dunkelheit entgegenzusehen.
Dieses Mal würde ihm Lady Faulkner beistehen. Der Gedanke gab ihm genug Kraft, ihre Nummer anzuwählen, die er, im Unterschied zu vielem anderem, zuverlässig auswendig wusste. Es gab noch etwas, was er nie vergessen konnte, wie sehr er sich auch bemühte: die Hölle. Um die zu vergessen, hätte er sogar seine Seele verkauft; wenn er überhaupt noch eine Seele besaß.
Reglos, vom seit Tagen andauernden Zittern seiner Hände abgesehen, wartete er darauf, dass sein Channel den Telefonhörer abnahm und ihm die Fragen, die ihm auf der Seele brannten, deutete.
4
Camp Verde, Arizona
In der Nacht von Halloween
Das Telefon läutete unaufhörlich und riss Cherelle Faulkner endlich aus dem Tiefschlaf. Ihr nackter Oberkörper glitt aus der Decke, als sie sich aufsetzte, und durch mascaraverklebte Wimpern blinzelte sie müde in den dunklen Raum. Außerhalb des Fensters, dessen Vorhang ausschließlich aus Staub bestand, blinkte das blasse Neonlicht des Motels im rhythmischen An und Aus, An und Aus – wie ein langsam schlagendes Herz, das im Dunklen um Gäste warb für eine Nacht oder eine Woche oder einen Monat.
Das Telefon klingelte weiter.
Sie strich sich die blondierten langen Haare aus dem Gesicht und stieß den Mann neben ihr an, der ruhig schlief. »Herrje, Tim! Geh endlich an das verdammte Telefon!«
»Mist«, murmelte Tim Seton. »Geh doch selbst dran.
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