Blutiges Schweigen
Healy machte sich ebenfalls an die Arbeit, indem er um Markham herumging und Küchenschubladen aufzog.
Ich kniete mich vor den Fernsehschrank und die Videobänder, begann, sie aus den Hüllen zu nehmen, und warf eines nach dem anderen beiseite.
Doch plötzlich hielt ich inne.
Das vorletzte Videoband steckte in einer leuchtend roten Hülle, die sich von den anderen unterschied und auch nicht beschriftet war. Ich holte die Kassette heraus. Auf dem Etikett stand ein mit schwarzem Markierstift geschriebenes Wort:
Hilfe .
Wortlos schaltete ich den Videorecorder an, legte das Band ein und drückte auf PLAY. Ein schwarzer Bildschirm. Und dann, Sekunden später, war Markhams Gesicht zu sehen.
Er hatte Tränen in den Augen.
Sein braunes Haar war kürzer als auf dem Foto, das ich im Jugendclub mitgenommen hatte, und er trug auch keine Hornbrille. Dunkle Augen wie Holzsplitter blickten uns entgegen; Bartstoppeln knisterten, als er sich mit der Hand über das Kinn fuhr. Er schien in Form zu sein und war auch gut angezogen: ein Polohemd von einer bekannten Marke, Jeans, keine Schuhe.
Er schniefte und holte tief Luft. Seine Augen wandten sich kurz von der Kamera ab. Die Aufnahme war tagsüber mitten im Wohnzimmer entstanden. Im Hintergrund waren die Küche und ein Stück der Treppe zu sehen. Er strich sich übers Haar, als wisse er nicht, wo er anfangen solle.
Dann räusperte er sich.
»Mein Name ist Daniel Markham«, sagte er mit zitternder Stimme und feuchten Augen. Beklommenheit zeigte sich auf seinem Gesicht. »Und das ist mein Geständnis.«
Der Doktor
Vor elf Monaten
Daniel Markham öffnete die Tür seines Büros und trat ein. Es war zu warm. Im Krankenhaus war es immer entweder heiß und stickig oder eiskalt. Nie durchschnittlich temperiert. Es war Anfang November, und trotz des nun schon seit einer Woche nicht jahreszeitgemäß warmen Wetters hatte man versäumt, die Zentralheizung in diesem Teil des Gebäudes daran anzupassen. Markham hatte sich bereits zweimal beschwert, allerdings ohne Ergebnisse. Das staatliche Gesundheitssystem, wie es leibte und lebte.
Er hängte seinen Mantel auf und öffnete die Fenster so weit wie möglich. Eine leichte Brise wehte herein. Dann setzte er sich an den Schreibtisch, fuhr den Computer hoch und fing an, seine Mails zu lesen. Ganz oben im Posteingang befand sich sein Terminkalender, den seine Sekretärin am Anfang jeder Woche ausfüllte. Ohne sie wäre er verloren gewesen. Er konnte sich zwar die Gesichter seiner Patienten merken, aber nicht immer ihre Namen und ganz bestimmt nicht, wann sie bei ihm vorsprechen würden. Der einzige feste Termin, den er nicht vergaß, war der im Barton-Hill-Jugendclub am Montagnachmittag, wo er als Teilnehmer einer Initiative des Krankenhauses, die Therapeuten zum ehrenamtlichen Engagement ermunterte, fünf Stunden mit spastisch gelähmten Jugendlichen verbrachte und half, wo er konnte.
Anfangs hatte er die ehrenamtliche Tätigkeit als Zeitverschwendung empfunden und die Rundmail für einen schlechten Scherz gehalten. In einem Gesundheitswesen, das den aktuellen Patientenansturm kaum bewältigen konnte, würde ein zusätzlicher Außentermin doch nur dafür sorgen, dass noch weniger Menschen einen Termin bekamen. Die Beschwerden waren praktisch vorprogrammiert. Allerdings war die Krankenhausverwaltung fest entschlossen, das vor einem Jahr in einer teuren PR-Kampagne gemachte Versprechen gegenüber der Gemeinschaft einzulösen. Und nach seiner ursprünglichen Skepsis hatte Markham Freude an der Mitarbeit im Jugendclub bekommen. Die Eltern der Kinder waren so anders als seine Patienten im Krankenhaus, denn sie hatten trotz des Leids, das sie erleben mussten, eine positive Grundeinstellung. Bei seinen Klinikpatienten war genau das Gegenteil der Fall: Die meisten dachten von Anfang an negativ und suchten nur nach Gründen, um die Abwärtsspirale voranzutreiben.
Nachdem Markham die Hälfte der geöffneten Mails gelöscht hatte, rief er seinen Terminkalender vom dritten November auf. Seine Tage waren in einstündige Sitzungen aufgeteilt. Diesmal war er von acht Uhr morgens bis dreizehn Uhr und von vierzehn bis achtzehn Uhr ausgebucht. Ganz oben las er einen Namen, den er eindeutig nicht kannte: Sykes. Vermutlich ein neuer Patient. Er klickte am Computer sein elektronisches Patientenverzeichnis und dort den Acht-Uhr-Termin an. Sykes . Die Krankengeschichte des Mannes erschien auf dem Bildschirm. Gebrochener Arm mit neun Jahren. Gebrochenes
Weitere Kostenlose Bücher