Blutiges Schweigen
Handgelenk mit siebzehn. Sonst keine großen Beschwerden bis vor zwei Wochen, als er innerhalb von zehn Tagen fünfmal vorgesprochen und über Schlaflosigkeit, Panikattacken, starke Schmerzen in der Brust und Konzentrationsprobleme am Arbeitsplatz geklagt hatte. Markham
scrollte die Seite bis zur Überweisung des Hausarztes herunter. Der Patient war bei seinem letzten Praxisbesuch eingehend untersucht worden, allerdings ohne Befund. Körperlich war alles in Ordnung. Markhams Spontandiagnose lautete Depression.
Das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte.
Er hob ab. »Hallo?«
»Mr Sykes ist hier«, meldete seine Sekretärin.
Markham warf einen Blick auf die Wanduhr. Es war kurz vor acht Uhr.
»Okay, schicken Sie ihn rein.«
Er ging zu den beiden Sofas, die in L-Form in einer Zimmerecke gegenüber einem kippbaren Ledersessel mit hoher Rückenlehne standen. Dazwischen befand sich ein Couchtisch mit einem Stapel dicker und zum Großteil langweiliger Bücher, die er für zehn Pfund auf einem Flohmarkt gekauft hatte, weil er wollte, dass dieser Raum nicht wie ein Büro in einem riesigen und sterilen Krankenhaus, sondern einladend und gemütlich wirkte.
Es klopfte zweimal an der Tür.
»Herein.«
Mr Sykes betrat den Raum. Er war Ende dreißig und eins achtzig groß, sah aber viel kleiner aus, denn er ging gebeugt. Seine Wirbelsäule war ab den Brustwirbeln beinahe gebogen. Braunes Haar, dunkle Augen, Zweitagebart und ein müder Gesichtsausdruck. Markham musterte ihn: Ein Teil des optischen Eindrucks war sicher dem Schlafmangel geschuldet, aber da war noch etwas anderes. Der Mann strahlte eine gewisse Traurigkeit aus. »Mr Sykes?«
Er nickte. »Dr. Markham.«
»Bitte.« Markham wies auf die Sofas. »Nehmen Sie Platz.«
Sykes nickte zum Dank, blickte sich im Büro um und setzte sich auf das Sofa, das ihm am nächsten stand. Mit zusammengepressten
Knien kauerte er auf der Sofakante. Er schien nervös zu sein.
»Möchten Sie etwas trinken?«
»Nein, vielen Dank«, antwortete Sykes, schaute Markham kurz an und wandte dann wieder die Augen ab. In seinem Gesicht zeigte sich derselbe Ausdruck wie bei den meisten, die zum ersten Mal diesen Raum betraten: eine Mischung aus Erwartungshaltung und Todesangst.
Markham ließ sich in dem Ledersessel nieder. »Also, was führt Sie heute hierher?«
Sykes nickte und zögerte. »Ich, äh …« Er verstummte, ließ den Blick wieder durch das Büro schweifen und klopfte mit den Fingern auf seine Knie. »Ich fühle mich nicht sehr gut.«
Markham nickte. »Und wie genau äußert sich das?«
»Ich glaube, ich habe jetzt schon seit zwei Wochen nicht mehr geschlafen. Wenigstens nicht richtig.«
»Belastet Sie etwas?«
Sykes hob den Kopf. »Ja.«
»Was?«
»Viele Dinge. Viele verschiedene Dinge. Ich mache mir ständig Sorgen. Außerdem habe ich Panikattacken – Angst, die in riesigen Wellen in mir hochsteigt.«
»Was bereitet Ihnen denn Sorgen?«
»Ich habe Schmerzen in der Brust«, erwiderte Sykes und fixierte einen Punkt hinter Markham. Bis jetzt hatte fast kein Augenkontakt stattgefunden. »Körperlich ist nichts gefunden worden, aber ich spüre, dass mich etwas von innen heraus zerfrisst.«
Markham sagte: »Gut. Gehen wir mal ein paar Schritte zurück. Was machen Sie denn beruflich?«
Kurz hob Sykes den Kopf. »Ich bin so eine Art Freiberufler.«
»In welchem Bereich?«
»Ich beschäftige mich mit Menschen.«
»Sind Sie Manager?«
»Nein, ich beobachte, und dann handle ich.«
Markham runzelte die Stirn. »Möchten Sie das näher ausführen?«
»Ich kann mich weder auf meine Arbeit noch auf sonst etwas im Leben konzentrieren. Ich sitze den ganzen Tag da, schaue auf meinen Computerbildschirm und sehe nichts als ihr Gesicht, das mich anstarrt.«
»Von wessen Gesicht ist hier die Rede?«
Sykes antwortete nicht, sondern blickte zu Boden. Seine Finger lagen auf den Knien. Eines seiner Beine zitterte leicht. Er klopfte mit dem Fuß auf den Teppich.
»Mr Sykes?«
Keine Antwort. Markham beugte sich vor.
»Wer starrt Sie an?«
Nichts.
»Mr Sykes? Wessen Gesicht sehen Sie?«
Eine Sekunde später verfiel Sykes in völlige Reglosigkeit, als hätte jemand ein Licht ausgeknipst. Er blickte weiterhin zu Boden. Beide Hände ruhten auf den Knien.
»Mr Sykes?« Markham beugte sich noch weiter vor, um Sykes ins Gesicht schauen zu können. »Wessen Gesicht sehen Sie vor sich?«
Langsam bewegte sich Sykes wieder: Seine Finger glitten die Oberschenkel hinauf, die Beine
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