Blutiges Schweigen
anderen Ende des Tisches lag die Puppe auf der Seite. Eines ihrer Augen war zugefallen. Der Lippenstift war an den Rändern noch stärker verschmiert. Auch die gepunktete Linie, die vom Rücken bis zur Brust verlief, war ein wenig verwischt. Ich hielt mir die Puppe näher ans Gesicht, drehte sie und musterte das Loch, wo einmal das rechte Bein gewesen war. Im nächsten Moment bemerkte ich, dass etwas in der Körperhöhle steckte. Ich griff zur Schere, vergrößerte das Loch und holte den Gegenstand heraus.
Und wurde von Entsetzen gepackt.
Es war ein viermal gefaltetes Foto, das einen weiblichen Torso vom Hals abwärts zeigte. Die Aufnahme war bei Dämmerlicht gemacht worden. Zwar nicht bei Dunkelheit, aber nicht weit entfernt. Von Kopf oder Gesicht war nichts zu sehen. Keine Haarsträhne fiel ins Bild. Oberhalb des Halses war das Bild leer. Die Haut war fleckig wie bei jemandem, der gerade aus der Dusche gekommen war. Am Bildrand, dicht an der Wölbung des Schulterblatts, befand sich ein Bluterguss, der im Begriff war, sich gelb zu verfärben. Von den Seiten und rund um die Einbuchtung unten an der Kehle ragten Schatten ins Bild. An der oberen rechten Ecke hatte jemand – entweder mit einer Zirkelspitze oder einer Messerklinge – etwas in die glänzende Bildoberfläche geritzt. Die Zahl Zwei.
Ich drehte das Bild um. Auf der Rückseite war keine Identifikationsnummer zu sehen. Keine der Zahlen oder Daten, wie man sie auf im Laden entwickelten Fotos fand. Und das
hieß, dass das Bild entweder mithilfe eines Farbdruckers produziert oder zu Hause entwickelt worden war.
Aber bei wem zu Hause?
Jedenfalls war derjenige mir zum Jugendclub gefolgt und hatte die Puppe dort hinterlegt. Also musste die Puppe irgendeine Bedeutung haben. Warum sie sonst benutzen? Allerdings machte mir im Moment mehr zu schaffen, dass mich offenbar jemand beobachtete und mir in der Dunkelheit nachspionierte, ohne dass ich es ihm mit gleicher Münze heimzahlen konnte. Und wenn dieser Jemand gewusst hatte, dass ich im Jugendclub war, und mir eine Botschaft hatte zukommen lassen wollen, hieß das, dass der Fall ein Loch hatte. Und dieses Loch würde immer größer werden, bis ich es stopfte.
Ich beugte mich über das Foto und betrachtete die Umgebung und den Hintergrund des Körpers. Es sah aus, als säße sie aufrecht. Trotz der schlechten Lichtverhältnisse hatte ich den Eindruck, dass sich der Raum hinter ihr ausdehnte. In ihrer näheren Umgebung war er grau wie Granit, ging jedoch weiter hinten in eine Wand aus absoluter Dunkelheit über. Vielleicht stellte das Foto ja gar nicht Megan dar. Vielleicht aber doch. Beide Möglichkeiten ließen mir das Blut in den Adern gefrieren.
Dann hielt ich inne.
Und hielt mir das Bild noch dichter vor die Augen.
In der linken Ecke der Aufnahme, unmittelbar über ihrer rechten Schulter, war in der Finsternis ein Umriss zu erkennen. Ich fuhr ihn mit dem Finger nach.
Pappkartons.
Sie waren zwar entsetzlich verschwommen, doch ich konnte eindeutig eine L-Form ausmachen. Wo sich die horizontale und die vertikale Kante des obersten Kartons trafen, sah ich eine schmale Linie. Und da war noch etwas: ein kleines, helles
Etikett, das an der Seite klebte und zur Hälfte ins Bild hineinragte. Die Aufschrift war wegen des unterbelichteten Fotos nicht zu entziffern. Allerdings konnte ich eine zweizeilige Überschrift in schwarzem Fettdruck erkennen. Ein Teil sah aus wie das Symbol für Pi, der Rest war Kyrillisch.
Ich griff zum Telefon und wählte Spikes Nummer.
»Diese Affäre muss aufhören«, meinte er, da ihm meine Nummer offenbar angezeigt worden war.
»Ich brauche deine Hilfe. Schon wieder.«
»Sag mir einfach den Namen des Servers.«
»Diesmal ist es keine Computersache.«
»Oh.«
»Ich habe hier etwas, das übersetzt werden muss. Da ich es nicht unbedingt in ein Übersetzungsbüro geben möchte, würde ich mich freuen, wenn du einen Blick darauf wirfst.«
»Ist es Russisch?«
»Eindeutig Kyrillisch. Glaube, es könnte eine Zahl dabei sein.«
»Ja, schon gut. Schick es mir.«
»Danke, Spike.«
Ich beendete das Gespräch und fotografierte dann mit der Kamera in meinem Telefon das Foto, wobei ich mich bemühte, dass die Frau so wenig wie möglich ins Bild kam. Je weniger Fragen zu dem Thema, wer sie war und was sie da tat, ich beantworten musste, desto besser. Als ich ein paar scharfe Fotos hatte, mailte ich sie an Spike. Drei Minuten später rief er zurück. Als ich abhob, hatte er die
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