Blutiges Schweigen
man doch zum Einbalsamieren, richtig?«
»Heutzutage nicht mehr so häufig. Inzwischen gilt Formaldehyd als schädlich. In einigen europäischen Ländern ist es sogar verboten.«
»Weil es krebserregend ist?«
»Richtig. Formalin besteht nur zu siebenunddreißig Prozent aus Formaldehyd. Der Rest ist Methanol und Wasser. Allerdings wirkt es immer noch verblüffend gut. Wenn man einen halben Tierkadaver in eine Wanne voll mit diesem Zeug
legt, bleibt das Gewebe vollständig erhalten. Fragen Sie Damien Hirst.«
»Wie funktioniert es?«
»Einfach gesagt härtet Formaldehyd den toten Körper aus. Es zersetzt das Zellgewebe, trocknet das Protoplasma und ersetzt die Flüssigkeit durch eine feste, gelartige Masse. Auf diese Weise stabilisiert es nicht nur die Zellen und sorgt dafür, dass die Haut erhalten bleibt, sondern desinfiziert dabei auch noch das Gewebe. Und was noch besser ist – es ist unglaublich resistent gegen Bakterien.«
»Wo könnte ich welches bekommen?«
»Formalin?«
»Nur theoretisch und unter uns gesprochen.«
»Nun, da es ein Karzinogen ist, wird der Verkauf streng überwacht. Deshalb importiert man es am besten entweder aus dem außereuropäischen Ausland oder aus einem europäischen Land, wo lockerere Regeln gelten. Beide Wege sind nicht einfach. Und außerdem bräuchten Sie jemanden, der es für Sie transportiert und bereit ist, das Risiko einzugehen. Ich wüsste nicht, wo man so jemanden findet.«
Eine Stunde später bog ich in den Friedhof von Kensal Green ein: dreißig Hektar voller Grabsteine, Mausoleen und Parkanlagen, die sich wie eine ausgebreitete Decke quer durch die Stadt erstreckten. Ich stoppte den BMW auf dem Rasen neben einem Säulengang und schaltete den Motor ab. Kurz lugte ein Gesicht hervor und verschwand wieder. Ich stieg aus und ging los. Im Säulengang roch es feucht und muffig. Von rechts näherte sich ein magerer Schwarzer, der eine gelbe Mütze und eine glänzende grüne Fliegerjacke trug.
Sein Name war Ray Smith.
Smith war ein Kleinkrimineller, der nach einem vermasselten Banküberfall in Mayfair vor fünf Jahren ins Visier der Polizei
geraten war. Er war Fahrer des Fluchtfahrzeugs gewesen, allerdings nicht schnell genug geflohen. Eigentlich war Smith kein schlechter Kerl, er hatte sich nur mit den falschen Leuten eingelassen. Im Austausch für ein neues Leben als bezahlter Informant durfte er wieder als freier Mann durch die Straßen streifen. Damals hatte ich ihn mir geschnappt und ihm das Doppelte des Preises geboten, den die Polizei ihm zahlte. Er war zwar ein kleiner Fisch, hatte aber gute Ohren. Daher hatte er auch seinen Namen. Ray war nicht etwa die Abkürzung von Raymond, sondern von Radar, denn er wusste immer, was gerade lief.
Ich musterte ihn von Kopf bis Fuß.
Ray war sechzig Kilo geballte Energie, angetrieben von einer Mischung aus Adrenalin und Paranoia, und er war für seinen schauderhaften Klamottengeschmack bekannt. Seine Fliegerjacke ähnelte der Explosion einer Atombombe, und an seinem Ringfinger steckte ein riesiger, von Diamanten strotzender Ring.
»Heute mal ganz unauffällig, Ray?«
Er verdrehte die Augen und schaute sich um. »Fick dich. Ich sollte gar nicht hier sein und mit dir reden, Mann. Du bringst Unglück.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Erinnerst du dich, als ich dir das letzte Mal geholfen habe?«
»Klar, muss vor etwa zwei Jahren gewesen sein.«
»Richtig. Und weißt du, was am nächsten Tag passiert ist? Die haben mir die Fresse eingetreten. Und dann ist mein Scheißhund gestorben. Du bist wie die Medusa.« Wieder blickte er zur Seite. Dann huschten seine Augen zurück zu mir. »Pass auf«, sagte er. Eine Pause. »Ich … habe das mit deinem Mädchen gehört.«
Ich nickte. Er drehte sich um, spähte hinter sich in den Säulengang und kehrte mir den Rücken zu. Ich ließ ihm einen
Moment Zeit. Dieser kurze Augenkontakt war Rays Art, mir mitzuteilen, dass ihm die Sache mit Derryn leidtat. Emotionaler würde unser Verhältnis nie werden.
Ich wechselte das Thema. »Na, saugst du immer noch den Steuerzahler aus?«
Er wandte sich wieder mir zu. »Aber klar doch. Und der einzige Grund, warum ich noch lebendig vor dir stehe, ist, dass mein Kontaktmann mich aus allem raushält.«
Vor etwa fünfzehn Jahren hatte man bei der Polizei die Regelung eingeführt, dass Detectives Listen über ihre vertraulichen Informanten führen mussten, was, wie die meisten bestätigten, die dümmste Idee in der Geschichte der
Weitere Kostenlose Bücher