Blutiges Schweigen
Keine Reaktion.
»Wirklich?«
»Was soll ich darauf antworten?«
»Hier herrscht eine Verschwörung des Schweigens. Die Polizei dreht Däumchen, während irgendwo tote Frauen liegen.«
»So kann die Polizei den Russen den Laden dichtmachen.«
»Sie gehören auch dazu, Healy. Sie sind die Polizei.«
»Ich bin anders als die.«
»Aber Sie finden diese Vorgehensweise trotzdem richtig?«
»Ich finde sie ganz und gar nicht richtig «, stieß er hervor. Seine Finger schlossen sich fest um das Bierglas. »Warum, verdammt noch mal, sollte ich mit Ihnen reden, wenn ich das richtig fände? Die haben meine Tochter in einem beschissenen Aktenschrank begraben. Darum lassen Sie mich eines klarstellen: Wenn ich sie gefunden habe, werde ich diesen Haufen Scheiße, der sie entführt hat, plattmachen. Und dann reiße ich ihm das Herz raus und stopfe es ihm in seinen beschissenen Schlund. War das deutlich genug für Sie?« Er betrachtete mich. »Also können Sie entweder mitmachen oder verschwinden. Aber wenn Sie mitmachen, müssen Sie damit rechnen, dass es ziemlich unschön wird.«
Ich war nicht sicher, ob er damit die Suche nach Leanne oder die Tatsache meinte, dass er sich gegen die gesamte Polizei stellte. »Wissen Sie, warum der Chirurg in der fraglichen Nacht dort war?«
»Im Lagerhaus?«
»Ja.«
»Er wollte eine Lieferung entgegennehmen. Aber er ist mit dem Zeug entkommen.«
Alles hängt miteinander zusammen .
»Es war das Formalin.«
»Das was?«
»Flüssiges Formaldehyd.«
Er hielt inne. »Zum Konservieren von Gewebe?«
»Richtig«, erwiderte ich, »zum Konservieren von Gewebe.«
Er schlug die Hand vor die Stirn und fing an, sie zu reiben. Falls der Chirurg tatsächlich sieben Frauen entführt hatte, brauchte ich Healy nicht zu erklären, was er mit der Chemikalie vorhatte.
»Die Polizei darf das nicht unter den Teppich kehren«, sagte ich.
»Ach, wirklich?«
»Nein.«
»Bis jetzt haben sie es aber ziemlich gut hingekriegt.«
»Der Chirurg wird sich erst wieder blicken lassen, wenn er absolut sicher ist, dass keine Gefahr mehr droht. Er wird es nicht riskieren, dass sich ein Vorfall wie der nachts im Lagerhaus wiederholt.«
Healy zuckte die Schultern. »Sie werden die Sache mit den Frauen nicht veröffentlichen. Denn wenn der Chirurg glauben muss, dass seine Verhaftung unmittelbar bevorsteht, ist er weg. Und mit ihm auch alle Namen und Telefonnummern von sämtlichen russischen Dreckskerlen in der Stadt.«
Ich lehnte mich zurück. Er sah mir in die Augen.
»Wir können einander helfen«, sagte er. »Sie wollen die kleine Carver finden, damit ihre Eltern die Antworten bekommen, die wir ihnen nicht liefern konnten, richtig?« Er musterte mich argwöhnisch. »Richtig?«
Ich nickte.
»Und ich will ihn kriegen, um ihn …«
Er verstummte. Kurz konnte ich mich in ihm wiedererkennen. Ein Mann, zerrissen vom Verlust. Er hatte nicht die Möglichkeit gehabt, seine Tochter zu beerdigen. Er wusste nicht einmal, wo sie war und was man mit ihr gemacht hatte. Seine letzte Erinnerung an sie war ein lautstarker Streit. Die Grenze zwischen dem, was das Gesetz vorschrieb, und dem, was er tun zu müssen glaubte, war kaum noch auszumachen. Vielleicht gab es sie auch gar nicht mehr.
»Wie ist man darauf gekommen, dass dieser Typ etwas mit dem Verschwinden der Frauen zu tun hat?«
Er sah mich an, als hätte er mit dieser Frage gerechnet. »Ihre Halsketten.«
Ich erinnerte mich an die Aufbewahrungsbox mit Megans persönlichen Sachen, die ich in ihrem Schrank entdeckt hatte.
Sie hatte Fotos, Briefe und Schmuck enthalten – und eine polierte Obsidianscherbe an einer Kette. Glas. »Meinen Sie die Ketten mit dem Glas?«
»Ja. Weil er immer eingewickelt ist wie eine Mumie, weiß niemand, wie er aussieht oder heißt. Deshalb haben die Russen ihm den Spitznamen Dr. Glas verpasst, und zwar wegen der Kette, die er um den Hals trägt. Es ist ein poliertes Stück Obsidian mit der Inschrift PC auf der Rückseite. Das ist die einzige Information, die ich über ihn habe.«
In Megans war MC eingraviert.
»Sind das seine Initialen?«
Healy zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Jedenfalls hatten alle Frauen eine solche Kette mit ihren Initialen auf der Rückseite. Also ist davon auszugehen.« Er hielt inne, und kurz zeigte sich ein trauriger Ausdruck in seinen Augen. »Alle Frauen … mit Ausnahme von Leanne.«
»Sie hatte keine?«
Er betrachtete die Tischplatte. »Phillips hat Ihnen heute eine Menge vorgelogen, allerdings
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