Blutiges Schweigen
nicht, was Leanne betrifft. Es gibt keine hundertprozentig sichere Verbindung zwischen ihr und Megan und den anderen.«
»Weil sie keine Kette hatte?«
»Richtig.« Er starrte mich an. »Wir hatten zu Hause viele Probleme und haben oft gestritten. Auf dem Papier … kam Leanne gut als Ausreißerin infrage.« Eine Pause. Noch mehr Trauer – und dann stählerne Entschlossenheit. »Aber ich weiß, dass er meine Tochter entführt hat. Ich weiß es einfach.«
Ich nickte und ließ ihm einen Moment Zeit. »Ist das alles?«
»Was meinen Sie damit?«
»Ist das der Grund, warum man glaubt, dass dieser Typ sieben Frauen entführt hat?«
Ich sah ihn an. Er antwortete nicht.
»Es ist eine Verbindung, allerdings eine wackelige. Was, wenn die Ketten bei Asda im Angebot sind und fünfzigtausend andere Leute auch eine haben?«
Kurz entstand Schweigen zwischen uns.
»Was verheimlichen Sie mir sonst noch, Healy?«
Er blickte über seine Schulter zur Tür und schien etwas sagen zu wollen, tat es aber nicht. Als er sich wieder zu mir umdrehte, hob er einen Finger. »Da wäre noch etwas«, flüsterte er. »Aber …« Erneut hielt er inne und schaute sich um. »Ich erzähle es Ihnen. Allerdings nicht hier.«
»Sie haben mir doch sonst alles erzählt.«
»Ich muss es Ihnen zeigen«, erwiderte er.
Ich überlegte einen Moment und versuchte herauszufinden, was er damit meinte. »Hatten noch andere vermisste Frauen Kontakt zum Jugendclub?«
»Nein, nur Leanne und die kleine Carver.«
»Was bedeutet, dass Sie Erkundigungen über Daniel Markham einziehen müssen«, entgegnete ich. »Denn momentan ist er unser bester Anhaltspunkt, wenn wir rauskriegen wollen, was aus ihnen geworden ist.«
43
Healy holte mich am nächsten Morgen um sieben Uhr ab. Es war noch dunkel. Er fuhr einen Vauxhall Kombi, dessen Rückbank voller Stroh war. Die Innenseiten der Türen wiesen schlammige Pfotenabdrücke auf. Außerdem stank das Auto nach nassem Hund. Abgesehen von der Krawatte schien er dieselben Sachen zu tragen wie am Vorabend. Obwohl er den Sitz ganz zurückgeschoben hatte, berührte sein Bauch beinahe das Lenkrad, und er musste die Beine anwinkeln. Er war zwar nicht unbedingt dick, aber ein kräftig gebauter
Mann, der durch fünfzehn Kilo Übergewicht noch gewaltiger wirkte.
Bis nach Mile End waren es etwa zwanzig Kilometer. In der ersten halben Stunde sprachen wir beide nicht viel. Wir kamen nur langsam voran, und ich hatte den Eindruck, dass Healy ebenso nachdachte wie ich: über unser gestriges Gespräch und das, was uns erwartete. Nach einer Weile kramte er in der Tasche an der Tür herum und förderte eine Aktenmappe zutage, die er mir reichte.
»Lust auf einen Kaffee?«
Ich sah ihn an. »Sind Sie ein Kaffee-Fan?«
Wir fuhren nach Osten durch Paddington. Ein Stück weiter vorn gab es eine Starbucks-Filiale. Er lenkte das Auto auf den Gehweg und schaltete die Warnblinkanlage ein. »Ich brauche ihn, um morgens in die Gänge zu kommen«, erwiderte er und wies auf die Akte. »Und Sie werden ihn nötig haben, wenn Sie das da durchackern wollen.«
Ich betrachtete die Mappe und klappte sie auf. Sie enthielt die Vermisstenakten aller sieben Frauen.
»Wie trinken Sie Ihren Kaffee?«, fragte er.
»Schwarz.«
Er stieg aus und ging in den Laden.
Ich nahm die Akten aus der Mappe. Megans lag ganz oben. Ich las sie durch. Die Ermittlungen hatten nicht viel ergeben. Man hatte die E-Mail vom London Conservation Trust als möglichen Hinweis gedeutet, und auch die Karte von der Webseite wurde erwähnt, doch beides hatte in einer Sackgasse gemündet. Wie ich vermutet hatte, war der Mann im Tiko’s niemandem aufgefallen. Die Polizei wusste nichts von Sykes und kannte die Verbindung zum Wald nicht. Es lagen Protokolle der Vernehmungen aller Mitarbeiter des Jugendclubs bei. Ich suchte das von Daniel Markham heraus und studierte es. Es war nichtssagend genug und abolut unverdächtig.
Wie in seiner Akte im Jugendclub wurde er als ledig geführt, nur dass er hier hinzugefügt hatte, er sei von seiner Frau Susan geschieden.
Trotz des begrenzten Platzes im Auto versuchte ich, die sieben Akten nebeneinander auf dem Armaturenbrett auszubreiten. Und dabei stellte ich fest, dass es nicht sieben waren.
Sondern acht.
Die achte Akte war dünn und unterschied sich von den anderen. Es befand sich nur ein einziger DIN-A4-Bogen darin, auf dem alle wichtigen Informationen geschwärzt waren. Kein Name. Keine Adresse. Keine persönlichen Angaben bis auf
Weitere Kostenlose Bücher