Blutiges Schweigen
Geburtsort und Familienstand. Mutter tot. Vater noch am Leben. Eine Schwester. Der einzige Anhaltspunkt war das Foto. Weiblich. Blond. Blauäugig.
Ich legte die Akte weg und fing an, die anderen durchzusehen. Die Frauen auf den Fotos blickten mir entgegen. Da keine von ihnen vorbestraft war, handelte es sich durchweg um Privataufnahmen, gemacht von Freunden und Angehörigen. Megan war mit ihren siebzehn Jahren drei Jahre jünger als das nächstältere Opfer. Die übrigen Vermissten waren zwischen zwanzig und fünfundvierzig.
Es war ungewöhnlich, dass ein Serientäter ein so breites Altersspektrum ins Visier nahm. Welche Bedürfnisse erfüllten blonde, blauäugige Frauen für ihn? Und was verband die Opfer sonst noch miteinander? Als ich weiterlas, stellte ich fest, dass alle Frauen Single waren oder zumindest nur eine lockere Beziehung führten. Die meisten hatten nicht nur einen unterbezahlten Job, sondern übten einen qualifizierten Beruf aus. Sie waren intelligent, attraktiv und gebildet. Selbst Megan, die noch zur Schule ging, passte in diese Kategorie. Die Einzige, die aus dem Raster fiel, war Leanne: eine durchschnittliche Schülerin und unscheinbarer als die anderen.
Und was hatte Daniel Markham mit der Sache zu tun? Megan – und vermutlich auch Leanne – hatte er im Jugendclub kennengelernt. Aber die anderen hatten keinen Kontakt zu Barton Hill und sich den Akten zufolge auch nicht gekannt. Allerdings handelte es sich ganz sicher nicht um Zufallsopfer. Dieser Mann ging strikt methodisch vor. Er plante, kalkulierte und sondierte die Lage. Er war organisiert und gesellig, so klug wie seine Opfer und fiel nicht unangenehm auf. Vielleicht war es ja Markham. Oder Glas. Oder sie waren zu zweit und arbeiteten zusammen. Möglicherweise waren sie auch ein und dieselbe Person.
Kurz dachte ich an die Familien, die immer noch dafür beteten, dass die Vermissten gefunden wurden. In ihren dunkelsten Stunden hofften sie vielleicht sogar, man würde wenigstens eine Leiche entdecken, damit die schreckliche Ungewissheit endlich aufhörte. Und dabei wusste die Polizei, dass die Hintergründe komplizierter waren. Phillips, Hart, Davidson, sie alle waren im Bilde – aus meinem Magen stieg Zorn hoch.
Kurz darauf kam Healy aus dem Starbucks, zwei riesige Kaffeebecher auf einem Papptablett in der Hand. Ich räumte die Akten vom Armaturenbrett, stapelte sie und nahm den Becher, den er mir hinhielt.
»Gut«, sagte er und lenkte den Wagen vom Gehweg herab, »dann also los.«
Wir fuhren am Hyde Park im Süden und am Regent’s Park im Norden vorbei. Zwei Minuten später gerieten wir auf der Euston Road in einen Stau. Healy bremste sanft, beugte sich vor und drehte die Heizung höher. Es war kalt. Die Windschutzscheibe beschlug langsam, und Regentropfen fielen auf das Glas. Einen Fuß auf der Bremse, entfernte Healy den Deckel vom Becher und spähte hinein.
»Haben Sie noch was über Markham rausgekriegt?«, erkundigte ich mich.
»Vielleicht. Im landesweiten Computer ist er nicht, aber Sie haben ja schon gesagt, dass sein Führungszeugnis sauber ist. Vorstrafen hat er also keine. Als Adresse ist nur die in Mile End angegeben, die wir bereits kennen.«
»Keine Zweitadresse?«
»Nein. Das ist ein absoluter Durchschnittstyp. Sie haben das Vernehmungsprotokoll doch gelesen, oder?«
Ich nickte. »Laut Akte ist er Berater.«
»Ja, im St. John’s.«
»Dem Krankenhaus?«
»Das ist etwa anderthalb Kilometer von seiner Wohnung entfernt.« Healy hielt inne und sah mich an. »Ich habe angerufen und Nachforschungen angestellt. Er ist Psychiater.«
»Hat nicht viel mit plastischer Chirurgie zu tun.«
Healy nickte. »Ich glaube nicht, dass er Dr. Glas ist.«
»Das denke ich auch nicht.«
»Was hat er dann mit unserem Fall zu tun?«
»War eine der Frauen vielleicht Patientin bei ihm?«
»Nein.«
Ich klopfte mit den Fingern aufs Armaturenbrett. »Er ist geschieden.«
»Ja.«
»Hat jemand versucht, seine Ex ausfindig zu machen?«
»Das war nicht weiter schwierig.«
»Wie das?«
»Sie wurde vor einigen Jahren in eine psychiatrische Klinik in Hertfordshire eingewiesen. Markham hat versucht, sie selbst zu behandeln, ist aber mit seinen Zauberkünsten gescheitert. Da er nach der ersten Vernehmung als sauber galt, hat man beschlossen, der Sache nicht weiter nachzugehen.«
»Haben Sie sich seitdem darum gekümmert?«
»Nachdem Sie gestern auf Kaution draußen waren, habe ich ihre Akte rausgesucht. Sie hatte nach
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