Blutinsel
Dort belud er seinen Beiwagen oder den selbst konstruierten Motorradanhänger und verschwand so schnell wieder, wie er gekommen war. So war es kein Wunder, dass er im Dorf den Ruf eines eigenbrötlerischen Sonderlings innehatte, doch das kümmerte ihn nicht. Er mochte die anderen Insulaner nicht, bis auf Joshua Breed, mit dem ihn eine entfernte Freundschaft verband.
Von ihm hatte er sich auch den Lastwagen geliehen, als er vor ein paar Jahren ein großes Holzkreuz, beinahe drei Meter hoch, direkt an der Steilküste errichtete, das in Richtung der Southern Shoals blickte und den vielen Seefahrern und Fischern gewidmet war, die in den unberechenbaren Untiefen ihren Tod gefunden hatten. Die Southern Shoals bezeichneten ein der Insel vorgelagertes Seegebirge, dessen einzelne Gipfel manchmal nur wenige Zentimeter aus dem Meer ragten und in dem zahlreiche Verwirbelungen und Tiefenströmungen das Wasser ständig in Bewegung hielten. Von der Steilküste aus betrachtet, erschien es beinahe bis zum Horizont wie das Brodeln und Sprudeln von siedendem Wasser in einem Topf. Und eben diese Strömungen waren es, die der Insel den Namen Hell’s Kitchen verliehen, denn hier kochte der Teufel höchstpersönlich eine brodelnde Suppe, die unzählige Seelen in die Tiefe gerissen hatte. Nur eine schmale, schiffbare Rinne zwischen den Shoals und der Nachbarinsel Elm Island im Südosten ermöglichte den Weg hinaus auf die offene See.
Ava schlief bereits tief und fest, als Gabriel weit nach Mitternacht zu Bett ging. Er hatte noch im Schuppen an einer neuen Skulptur für seinen Skulpturengarten gearbeitet. Die beinahe zwei Meter große Holzfigur eines Seemannes. Draußen tobte wie bereits in den letzten Tagen ein heftiger Sturm, und der windgepeitschte Regen prasselte beinahe waagrecht gegen die östliche Hauswand. Bevor er sich niederlegte, warf er noch einen Blick aus dem Fenster. In der schummrigen Dunkelheit erkannte er die helle Gischt der Wellen, die die felsigen Riffe unterhalb der Steilküste umspülten. Die leisen Atemzüge von Ava erfüllten den Raum. Er setzte sich auf das Bett, doch noch bevor er das Licht gelöscht hatte, hörte er draußen ein lautes Klopfen, zuerst ein einzelner Schlag, dann wiederholte es sich immer und immer wieder. Klopf … klopf … klopf …, es klang, als schlage eine Tür gegen die Hauswand. Hatte er vergessen, den Schuppen zu verriegeln? Hatte der heftige Wind womöglich die Tür aufgedrückt?
Mit einem Seufzer erhob er sich, warf seinen Ölmantel über und ging hinaus in die stürmische Nacht. Doch noch bevor er den Schuppen erreicht hatte, gefror ihm das Blut in den Adern.
Otter-Brook-Damm, Keene, New Hampshire,
13 . März 2007 , 21 . 50 Uhr (Dienstag)
Seit sieben Stunden hatten sie nichts mehr gegessen. Mitten in der Einöde hatten sie ihren Wagen zurücklassen müssen, nachdem ihnen der Sprit ausgegangen war. In der Dunkelheit waren sie dann quer durch den Wald gestapft, bis sie nahe der Sullivan Road auf eine kleine, unbewohnte Jagdhütte stießen. Wesley Tyler ging es schlecht. Frank Duval hatte ihn die meiste Zeit stützen müssen, doch Tyler hatte nicht aufgegeben und durchgehalten. Eine halbe Stunde hatten sie im Schatten eines mächtigen Baumes abgewartet und die Hütte beobachtet, die auf einer kleinen Lichtung stand und deren Silhouette sich aus dem Mondlicht schälte. Erst als sie sich sicher waren, dass niemand in der Nähe war, schlich sich Duval zur Tür, die mit zwei Bügelschlössern gesichert war. Das erste Schloss ergab sich bereits nach einer Minute, doch das andere, massivere, leistete erheblichen Widerstand. Duval musste sich mächtig anstrengen, bis er es mit einem Schraubenzieher, den sie im gestohlenen Wagen gefunden hatten, endlich aufhebeln konnte. Nachdem er die Hütte gründlich durchsucht hatte, holte er Tyler, der im Schatten des Baumes zurückgeblieben war und schwer atmend auf dem Boden kauerte.
» Komm! Du schaffst es. «
Tyler versuchte sich zu erheben, doch seine Beine knickten wieder ein. Duval ergriff ihn am Arm und zog ihn hoch. Er schwitzte, nachdem er ihn zur Hütte geschleppt hatte. In der Dunkelheit nahm er nur Umrisse wahr, aber die helle Couch in der Ecke hob sich gut vom dunklen Hintergrund ab. Tyler stöhnte laut auf, als er sich auf der Couch niederließ.
» Leg dich hin und ruh dich aus « , sagte Duval. » Ich schau mal, ob ich etwas zu essen finde. «
Tyler seufzte, als sich Duval den Schränken zuwandte. Auf einer Anrichte fand er eine
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