Blutjägerin (German Edition)
Probe, war ihr ein Mann aufgefallen. Mama hatte ihr erzählt, dass sie manchmal den starren Blick einer Szene nutzte, um ihn zu beobachten. Sein seltsames Erscheinungsbild im langen Ledermantel und mit auffälligem Kalabreserhut wirkte mehr einem Theaterstück entsprungen als dem wahren Leben.
So ging es jeden Tag, bis ihre Mutter ihren Mut zusammennahm und den Mann bat, hervorzutreten und Platz zu nehmen. Mit gerötetem Gesicht folgte er der Aufforderung und entschuldigte sich. Ihr Herz hatte sich längst entschieden. Die Liebe geht ihre eigenen Wege, hatte Mama immer gesagt. Wie wahr.
Sie betrat das Haus, schloss die Tür hinter sich ab und folgte dem Gang bis zum Ende. Die Räume im Erdgeschoss und darüber dienten als Abstellräume und Lagerplatz. Früher, als der Orden noch ein Dutzend Mitglieder gezählt hatte, waren oben die Schlafräume untergebracht.
Obwohl sie mit ihren Eltern in einer Wohnung wenige Straßen entfernt gelebt hatte, hatte sie als Kind viel Zeit hier verbracht. Immer, wenn Mama im Theater gearbeitet hatte, war sie hierhergekommen. Auch jetzt erinnerte sie sich so gut daran, dass es wie ein Film vor ihrem inneren Auge ablief. Vaters Jäger hatten sich oft um sie gekümmert, besonders Dominik, der wie ein Onkel für sie war. Je älter sie wurde, desto distanzierter gestaltete sich ihre Beziehung zu den Jägern und bei dem Gespräch neulich im Schwarzen Topf war Dominik niemand anderes für sie gewesen, als ein freundlicher alter Mann, den sie kannte. Trotzdem überraschte es sie, dass es auch schöne Erinnerungen an diesen Ort gab, die sie verdrängt und vergessen hatte.
Der eigentliche Zugang zum Hauptquartier lag hinter einer scheinbar verputzten Wand, die aus einer Holzfassade bestand. Dahinter verbarg sich ein Treppenabgang, der steil in die Tiefe führte. Die Stufen aus behauenem Stein zwangen sie, sich beim Runterlaufen am schmiedeeisernen Geländer festzuhalten. Die vereinzelten Glühbirnen spendeten nur wenig Licht. Modriger Geruch lag in der Luft. So gruselig dieser Ort war, sie empfand keine Angst. Es war noch immer alles so vertraut.
Der Abgang mündete in einen gemauerten, gewölbeartigen Tunnel, der in ein Labyrinth aus Gängen und Lagerräumen führte. Sophie war das letzte Mal vor mehr als drei Jahren hier gewesen, und obwohl sie jeden Winkel dieses Ortes zu kennen glaubte, verirrte sie sich dennoch und fand die pechgetränkte, beschlagene Holztür erst beim dritten Versuch. Herzklopfen machte sich breit, als unzählige Erinnerungen blitzartig über sie hereinbrachen, ohne dass sie diese greifen konnte. Erst jetzt begriff sie, weshalb sie hergekommen war. Das Blut sackte in ihre Beine, ihr schwindelte und sie stützte sich für einen Augenblick an der Wand ab.
Hinter dem massiven Portal lag der Raum, nach dem sie suchte. Auf dem Holz prangte groß und breit das silberne Wappen des Ordens. Für einen Moment hielt sie inne und dachte daran, wie sie diesen Ort verlassen und sich geschworen hatte, nie mehr zurückzukehren. Nie mehr war in diesem Fall eine relativ kurze Zeit.
Hinter dem Holz vernahm sie die gedämpften Stimmen eines Streits, der verstummte, als sie die Tür öffnete und den runden Saal betrat. Wärme und das Knistern eines Feuers im Kamin empfingen sie, und ohne, dass sie es beeinflussen konnte, erwachte ein Empfinden, als wäre sie nach einer langen Reise heimgekehrt. Verwirrt von diesem Gefühl ließ sie den Blick durch den Raum schweifen. Das Licht des Kristalllüsters an der kuppelförmigen Decke spannte ein Netz aus weißgelben Strahlen über den Saal. Die Wände waren mit Teakholz getäfelt und der Boden mit massivem Parkett bedeckt. Mehrere Türen führten in kleine Ruheräume und Kammern, die zu Glanzzeiten des Ordens den Offizieren vorbehalten waren. Im Versammlungssaal warteten gemütliche, gepolsterte Bänke, massive Tische aus grobschlächtigem Holz. Statuen mit den Gewändern und Waffen legendärer Jäger des Ordens standen reihum. Die Wände schmückten Abzeichen und Urkunden, wertvolle Teppiche und prunkvolle Waffen. Alles war so, wie sie es in Erinnerung hatte, gemütlich und dennoch vom Hochmut eines ehemals stolzen Ordens geprägt.
Als Kind hatte sie diesen Ort gemocht, seine warme, heimelige Atmosphäre und das geheimnisvolle Labyrinth davor, das viel Platz zum Spielen bot. Spätestens als Teenager begann sie, alles zu verabscheuen. Sie hatte es als Gefängnis empfunden, aus dem sie entfliehen musste, um ein normales Leben zu
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