Blutkirsche
hatte Anne verzichtet und ihren Mädchennamen wieder angenommen. Günthers Familiennamen hatte sie nie gemocht.
Anne setzte sich auf den Bettrand und strich der alten Frau leicht über die eiskalte Stirn. Sie hörte kein Atemgeräusch. Schlief sie oder war sie gerade gestorben? Als Anne mit dem Zeige- und Mittelfinger den schwachen Puls fühlte, schlug ihre Schwiegermutter die Augen auf.
„Wo bin ich? Warum bin ich nicht zu Hause? Bring mich sofort hier weg. Wo ist Günther?“, quengelte die Kranke. Anne merkte, dass die alte Dame heute noch ungeduldiger als sonst reagierte.
„Aber es ist doch schön hier, Mutter. Du hast vom Bett aus eine herrliche Aussicht und man kümmert sich gut um dich. Dein Sohn hat viel zu tun, er kommt sicher morgen.“ Anne log, um ihr Gegenüber nicht aufzuregen. Ihre letzten Worte gingen in leisem Wimmern der Seniorin unter. Vielleicht kam Günther ja tatsächlich am Muttertag zu Besuch.
Resigniert schob sie das Handy in ihre Handtasche. Sie betrachtete die Kranke, die jetzt röchelte. Es half alles nichts. Ihr Dienst begann in einer Stunde. Jetzt noch ein paar Lebensmittel einkaufen, die Zeit reichte noch, dann zur Polizeidirektion in der Hahnemannstraße, überlegte Anne.
Der Gebäudetrakt, in dem ehemals das Robert-Bosch-Krankenhaus untergebracht war, lag nicht weit vom Pflegeheim und dem Killesberg entfernt. Wenn sie Glück hatte, fiel der Stau auf dem Pragsattel heute aus.
Kurz nach elf Uhr wollte Anne das Zimmer verlassen und mit der Heimleitung reden, als ihr Handy klingelte.
„Wieland.“
„Chefin, hier Marco. Es gibt einen Toten.”
„Wo?“
„Kleingartenanlage Kirschblüte in Feuerbach. Die Schutzpolizei und der Kriminaldauerdienst sind schon vor Ort.“
„Okay! Kirschblüte? Alles klar, ich bin noch in Feuerbach. Aber etwas präziser bitte! Das ist ein großes Gebiet. Ich bin früher dort mal gejoggt, ist aber schon lange her. Wo genau dort?“
|35| „Garten Nummer 13. Liegt an der Grünewaldstraße. Der Parkplatz am Vereinsheim kann nicht benützt werden, aber es gibt einen Fahrweg bis fast zum Tatort, vom Hauptweg den zweiten kleinen Weg rechts bergab, den muss man laufen“, erklärte Marco Schneller seiner Chefin.
Die Verordnung des Arztes gab Anne bei der leitenden Schwester ab, das Gespräch musste warten.
Sie verspürte noch immer einen leichten Druck an der Schläfe, als sie das Pflegeheim verließ. Der kürzeste Weg zur Kleingartenanlage führte bergab über die kurvige enge Happoldstraße. Autos kamen ihr entgegen, sie musste mehrmals scharf abbremsen und immer wieder an einer freien Stelle rechts anhalten. Sie bog in die Dieterlestraße ab, dann in die Feuerbacher-Tal-Straße ein. Hinter dem Friedhof ging es links hinein in die Grünewaldstraße. Auf der Fahrt grinsten sie überall an Pfosten, Lichtmasten und Bäumen die Kandidaten zur Gemeinderatswahl an.
Aber im Gegensatz zu den anderen Mitstreitern seiner Partei, deren Gesichter auf den Fotos wie die von Mäusen oder Frettchen aussahen, war Günthers Plakat überraschend gut gelungen. Sein PR-Berater und Fotograf hatten ganze Arbeit geleistet.
Anne folgte dem Hinweisschild. ‚Kleingartenanlage Kirschblüte‘. Darunter stand: ‚Wirtshaus zum Gartenzwerg – Biergarten – dienstags bis sonntags geöffnet von 12–22 Uhr‘. Schon von weitem sah Anne den blauweißen Passat der Schutzpolizei. Es stand hundert Meter vom Festzelt und Parkplatz entfernt. Ein Auto mit einer dunkelorangefarbenen Aufschrift ‚Notarzt‘ stand mit der Motorhaube entgegengesetzt zum Polizeiauto. Also gab es noch eine andere Zufahrt, es war unmöglich hier zu wenden, die nächste Gelegenheit dazu gab es an der Gabelung und die lag vierzig Meter entfernt. Den Dienstwagen der Beamten des Kriminaldauerdienstes, erkennbar am Nummernschild, hatte sie schon am Straßenrand vor dem Parkplatz entdeckt. An einem Hainbuchenzaun, der eine Parzelle umgab, hatte Marco sein Motorrad, eine Yamaha, aufgestellt. Am Streifenwagen versammelte sich eine Handvoll Menschen. Anne drückte mehrmals auf die Hupe, aber die Neugierigen traten nur zögernd zur Seite. Sie stellte ihren Peugeot Cabrio hinter dem Polizeiauto ab.
„Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen“, tadelte Anne die starrenden Schaulustigen und ging den kleinen stufigen Pfad hinunter. Ein rotweißes Plastikband spannte sich um den Außenzaun des etwa drei Ar großen Gartens. Vor dem Gartentor hielt eine hübsche Polizistin Wache.
|36| Anne zückte
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