Blutkirsche
ihm nicht reden. So war es auch in ihrer fünfzehnjährigen Ehe gewesen. Zum Schluss war ihnen nach den Streitorgien nur noch Gleichgültigkeit geblieben. Was Anne aber am meisten empörte war, dass ihr Ex sich nicht um Julian kümmerte. Kurz nach der Geburt und auch noch in den ersten beiden Jahren hatte ihr Mann mit ihm gespielt, ihn gewickelt und gefüttert, aber als Julian größer wurde, versiegte sein Engagement. Sie hatte es auf Günthers berufliche Situation geschoben. Von da an kam sie sich wie eine alleinerziehende Mutter vor.
Dabei war Julian ein Wunschkind. Jedenfalls für sie. Was hatte sie nicht alles auf sich genommen, um schwanger zu werden. Und das, obwohl sie Karriere machen wollte. Es klappte nicht, an ihr hatte es, entgegen der Aussage des Gynäkologen, nicht gelegen. Erst nach ihrem Mexikourlaub, den sie sich als Auszeit genommen hatte, um über ihre Ehe nachzudenken, wurde sie schwanger.
„Grüß Gott, ich bin die Wochenendvertretung von Doktor Gruber.“
Anne kannte den Arzt nicht. Das also war die Vertretung des Hausarztes, der sonst regelmäßig die Heimbewohner betreute.
Der blutjunge Mediziner, der aussah, als ob er Praktikant im ersten Semester sei, packte sein Stethoskop und eine Ampullenpackung aus seinem Koffer. „Es ist gut, dass Sie hier sind“, sagte er. „Sind Sie die Tochter? Ihre Mutter hatte heute Nacht wieder einen kleinen Schlaganfall.“
„Um Himmels willen, schon wieder ein ‚Schlägle‘. Wie schlimm ist es?“, fragte Anne.
„Er ist nicht besonders schlimm, man sieht es nur am herunterhängenden rechten Augenlid. Keine Lähmungen. Ich werde ihr eine Injektion |33| gegeben. Im Krankenhaus könnte man auch nicht mehr für sie tun“, erklärte der Arzt, wahrscheinlich um Anne zu beruhigen, und schob die Kanüle in den Vene.
„Wieso hat man mich nicht gerufen?“, fragte Anne erbost. „Ich habe doch gesagt, wenn sich ihr Zustand verschlechtert, soll man mich informieren.“
„Ich weiß auch nicht, warum niemand angerufen hat, wahrscheinlich wollte die Schwester Sie nicht stören. Ich habe gehört, Sie sind Polizistin, das ist bestimmt anstrengend genug“, versuchte der Mediziner, eine Erklärung zu geben. Er packte seine Tasche und schaute nervös auf seine Armbanduhr. „Ich habe ein Medikament dagelassen. Die Dosis steht auf der Packung, die Pflegerin muss sie genau einhalten. Sie sind doch in einer Privatkasse? Die Medikamente werden dann ja voll bezahlt. Die Ampullen müssen aus der Apotheke geholt werden. Ich werde der Patientin jeden Tag Spritzen für die Durchblutung geben.“ Der Doktor ließ das Rezept liegen und verließ hastig das Zimmer. Anne hatte noch nicht einmal die Gelegenheit gehabt, ihm zu erklären, in welchem Verwandtschaftsverhältnis seine Patientin zu ihr stand. Oder zu fragen, ob die Kranke nicht doch besser in der Klinik aufgehoben wäre. Anscheinend interessierte es ihn nicht, wahrscheinlich kam aber eine saftige Rechnung.
Dies war schon das zweite Pflegeheim, in dem die Seniorin lag. In dem vorherigen fielen dem langjährigen Hausarzt die tiefen offenen Stellen am Rücken und den Fersen der Bettlägerigen auf. Da dies nicht der einzige Fall gewesen war, wurde das Haus geschlossen. Wenn im Internet vorher eine Beurteilung der Güte des Heimes veröffentlicht und damit eine Orientierung möglich gewesen wäre, hätte Günther seine Mutter bestimmt nicht dort untergebracht. Anne vermutete, dass die Pflegekräfte mit Dumpinglöhnen bezahlt wurden und deshalb keine Lust hatten, sorgfältig zu betreuen und die Kranke umzulagern.
Natürlich gehörte es nicht mehr zu ihrer Aufgabe, sich um ihre Ex-Schwiegermutter zu sorgen, doch Marlene Wöhrhaus war zu Anne immer herzlich gewesen, auch nach der Scheidung. Vor ihrer Erkrankung hatte sie sich immer um ihren Enkelsohn so gekümmert, als sei nichts vorgefallen.
Anne wollte nachher mit der jetzigen Heimleitung reden. Die Frage der Krankenhauseinweisung musste geklärt werden. Und wer die Ampullen besorgen solle. Außerdem hätte man ihr oder Günther sagen |34| müssen, dass ein unbekannter Arzt die Schwiegermutter behandeln würde. Sie wusste noch nicht einmal seinen Namen. Wozu bezahlte ihr Ex eigentlich noch zusätzlich zum Pflegegeld über dreitausend Euro für den Aufenthalt im Pflegeheim? Schließlich war diese Summe sein Argument vor Gericht gewesen, den Unterhalt für Julian zu kürzen, obwohl Günther mit seiner Baufirma bestimmt genug Geld scheffelte. Auf ihren Unterhalt
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