Blutkirsche
Stimmung entsprechend, anziehen. Aber mit einem Mal war ihre schlechte Laune wie weggeblasen.
Magda Wieland tat es leid. Gerne hätte sie noch mit ihrer Tochter gesprochen, ihr alles erklärt, als diese das Haus verließ. Aber Anne war mit einem knappen Gruß an ihr vorbeigegangen.
Dabei hatte sie es doch nur gut gemeint, das mit dem Efeuabholzen, damit nicht die saftige Rechnung über die Dachreparatur des Nachbarn auf sie zukam.
Aber was geschehen war, war geschehen. Magda seufzte. Eigentlich war sie glücklich darüber, dass Anne und der Enkelsohn bei ihr wohnten, sie bemutterte und kochte gerne für Julian. Bei ihr gab es bodenständige schwäbische Küche – Käsespätzle, Spätzle mit Linsen und Saitenwürste, Maultaschen mit Kartoffelsalat, auch den Gaisburger Marsch. Aber immer mit viel Soße oder Brühe, oft verfeinert mit einem ordentlichen Stück Butter oder einem Schuss Sahne. Nicht so neumodisches Zeug wie Nouvelle Cuisine, Molekularküche oder dieses Exotische – Mexikanisch, wie Anne es gerne mochte.
Sie war ihrer Tochter dankbar, dass sie das Haus sanieren hatte lassen, und dass nun ihre eigene Wohnung im Parterre lag. Immer schwerer fiel es ihr, mit ihren müden Knochen die Treppen hochzusteigen. Auf den Dachboden ging sie schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Alles, was sie irgendwann einmal brauchen würde, stand in der Wohnung, auch wenn Anne immer über die Unordnung schimpfte und Dolores, die Zugehfrau, drum herumputzen und von einer Ecke in die andere räumen musste. Aber wenn sie auf den Speicher ging, sah sie die Kammer. Niemand kannte ihr Geheimnis, die vielen Geheimnisse, so sollte es auch bleiben und die Akten für immer geschlossen bleiben. Anne durfte es nie erfahren und sie mochte nicht mehr daran denken. Noch heute überkam sie Panik in geschlossenen dunklen Räumen. Ihr Herz hämmerte dann wie wild. Nicht, dass ihre Pumpe nicht mehr mitmachte, ihr Arzt versicherte ihr immer wieder:
„Frau Wieland, mit Ihrem Herzen werden Sie hundert Jahre alt.“
Pah, hundert Jahre alt wollte sie nicht werden. Vor dem Tod hatte sie keine Angst. Aber wenn der Kopf nicht mehr mitmachte – Alzheimer wurde das jetzt genannt – lieber früher ins Gras beißen, als nachher geistig umnachtet zu sterben. Manchmal vergaß sie tatsächlich etwas, das vielleicht gerade mal fünf Minuten her war, dafür konnte sie sich an weit |69| zurückliegende Ereignisse so gut erinnern, als ob sie heute geschehen wären.
Angst, irgendwann einmal in ein Altersheim oder noch schlimmer in ein Pflegeheim abgeschoben zu werden, die überkam sie manchmal. Aber Anne hatte ihr versprochen, das nie zu tun. Und wie sie Anne kannte, würde diese ihr Wort halten. Nicht wie Sieglinde, die immer nur ihren Vorteil nutzte. Magda machte sich nichts vor, sie kannte die Schwächen ihrer Erstgeborenen. Bei Sieglinde schlug die Erziehung von Hans, ihrem verstorbenen Mann, durch. Er hatte es verstanden, sie auf seine Seite zu ziehen.
Sieglinde, ihr Augenstern seit dem Tag, als sie die Kleine geboren hatte. Während des Luftangriffs im April ‘43: Magda wohnte bei ihren Eltern im Stuttgarter Süden, die Hebamme kam nicht und die Bomben schlugen schon in der Nähe ein. Gerade zur Welt gekommen, trugen ihre Eltern das Neugeborene in einem Wäschekorb in den Luftschutzkeller und ließen sie unversorgt liegen. Sie hatte geschrien, gebettelt, sie nicht alleine zu lassen, ihr das Kind dazulassen, aber dann eingesehen, dass es das Beste für die Tochter war. Die Wände hatten gezittert, Putz fiel von der Decke, die Fensterscheiben zersprangen und ein Heulen erfüllte die Luft, noch heute erinnerte sie sich mit Grausen daran.
Aber es war noch einmal gut gegangen, die Bomben gingen einen Straßenzug weiter nieder.
Magda musste jetzt an ihre Eltern denken, einfache Leute. Der Vater, zu alt für den Wehrdienst, versah als Hausmeister und Blockwart seine Pflicht an der Heimatfront. Ihre Mutter besaß ein kleines Kurzwarengeschäft, in dem sie mithalf und als Ladengehilfin die Kunden bediente. Anfangs reagierte ihre Mutter zornig über die Schwangerschaft der unverheirateten Tochter, hatte es dann aber als Gottes Willen angesehen. Natürlich wäre es ihr lieber gewesen, dass eine solche Schande der Familie erspart blieb – Magda trug noch nicht einmal einen Verlobungsring. Aber damals ging alles drunter und drüber, Kinder wurden vom Reich als Kanonenfutter gebraucht, die jungen Männer waren gefallen oder verkrüppelt, und eine ledige Mutter
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