Blutkirsche
wurde fast schon als selbstverständlich angesehen. Denn Sigismund blieb in Russland vor Stalingrad. Sie waren beide jung gewesen, und die Leidenschaft hatte sie übermannt, so als ob es kein Morgen mehr gäbe. Und so kam es dann ja auch.
Magda hatte es all die Jahre nicht übers Herz gebracht, Sigismunds Briefe wegzuwerfen. Nicht, dass sie darin lesen wollte, aber sie dachte, |70| wenn die Briefe nicht mehr da wären, würde die Erinnerung an Sigismund für immer verblassen. Magda Wieland weinte leise.
Das Telefongespräch mit Sieglinde, die Geld brauchte und doch tatsächlich vorgeschlagen hatte, das Haus solle verkauft werden, damit das Erbteil ausbezahlt werden könnte, hatte sie maßlos aufgeregt. Sie solle ins Altersheim gehen und die Schwester hätte ja genügend Geld zum Umziehen, hatte Sieglinde ihr doch tatsächlich ins Gesicht gesagt. Ihre Älteste, die keinen Augenblick daran dachte, wie es der Mutter ging. Noch war sie nicht hinüber! Wollte Sieglinde das Erbe schon vor ihrem Tod verteilen? Weshalb die Eile?
Deshalb die Suche nach den Sparbüchern, ihr Anruf bei Anne; aber als sie vor dem Fernseher einschlief und wieder wach wurde und zu Bett ging, fiel Magda ein, dass tatsächlich nichts mehr auf den Konten war.
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Pünktlich um zehn Uhr betrat Anne das Büro. Ihr Schreibtisch lag in Fensternähe und die Sonne brannte herein. Sie zog ihren hellen Blazer aus. Bis jetzt hielt das Wetter, für abends war Gewitter und Regen angesagt worden.
Während der Fahrt zur Hahnemannstraße hatte sie sich etwas beruhigt, sie ärgerte sich, dass sie so irrational reagierte. Wenn sie weiterhin im Haus zusammen mit ihrer Mutter leben wollte, musste sie die Possen der alten Dame wohl oder übel hinnehmen.
Vielleicht sollte sie anrufen, ihre Mutter einladen, mit ihr und Julian zusammen abends in einem Restaurant essen zu gehen. Am Muttertag wollte sie eigentlich zu Hause kochen, ein festliches Menü ausrichten. Jedenfalls hatte sie es vorgehabt, aber dann war dieser Mord dazwischengekommen. Außerdem fehlten ihr noch einige Zutaten. Sie hatte schlichtweg keine Zeit gehabt, gestern noch einzukaufen oder Dolores zu beauftragen, damit sie es besorgte.
Sie dachte auch daran, dass sie mit den Nachbarn gut auskommen wollte, vielleicht konnte sie ja ein Grün neu pflanzen, das Wand und Dach nicht beschädigte. Aber die Sache mit der fehlenden Sonntagsruhe musste sie noch vorbringen, ohne dass es als Streit endete. Wie es aussah, kauften immer mehr ausländische Mitbürger die Häuser in der Nachbarschaft auf.
Das Telefon klingelte. Marco war dran. „Chefin, ich komme später, meine Mutter kommt erst um halb zwölf mit dem Zug, ich muss beim Baby bleiben und sie dann abholen.“
„Wo ist Melanie?“
„Melanie hat der Notarzt gestern Nacht ins Bürgerhospital eingewiesen. Deshalb ...“
„Oh“, sagte Anne. „Geht klar, komm wann du kannst. Ich halte die Stellung!“
Armer Marco. Er würde also bis mittags ausfallen. Seine Mutter kam aus Leipzig angereist. Melanie war im Heim und später in einer vom Jugendamt betreuten Einrichtung groß geworden. Für sie die Rettung, weil ihren leiblichen Eltern sie fast verhungern ließen. Marco hatte einmal |72| erzählt, dass Melanie trotzdem ein fröhlicher Mensch geworden sei. Bis jetzt! Arme Melanie. Die Schwangerschaftsdepression entwickelte sich anscheinend zu einer Psychose. Hoffentlich halfen ihr die Ärzte der Psychiatrie, damit sie bald wieder bei ihrem Baby sein konnte.
Anne machte eine Aktennotiz und entschuldigte Marco. Sie mailte es dem Dezernatsleiter, den sie bisher noch nicht gesehen hatte. Dessen Büro lag verwaist, als sie ankam. Spielt wahrscheinlich mit den Enkeln, vermutete Anne.
Kriminaldirektor Berger ging in Pension. Anne hatte sich auf seine Stelle beworben und mit ihm besprochen, dass er sie als Nachfolgerin empfehlen solle, obwohl sie dazu eine Dienstgradstufe überspringen musste.
Die Ordner des Gartenvereins stapelten sich auf ihrem Schreibtisch. Also Büroarbeit. Die Vernehmungen vor Ort konnte sie alleine nicht durchführen. Mindestens immer zwei Polizisten mussten bei einer Vernehmung anwesend sein, das war Vorschrift.
Anne zog das aktuelle Jahr der ‚Kirschblüten‘-Ordner hervor und fing an zu lesen. Solange die Festplatte des Computers, auf der hoffentlich alle wesentlichen Dateien des Vereins speicherten, noch nicht forensisch gesichert worden war, musste sie sich mit Papier begnügen.
Mitgliederlisten, Kaufverträge
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