Blutkirsche
Gott, sieht der toll aus!“, schoss es ihr als erster Gedanke durch den Kopf, als sie ihm auf einer Backstage Party eines Studio-Theaters begegnete. Wilma legte Wert auf schöne Zähne und gepflegte Hände. Ricardo hatte beides, alles andere war aber auch nicht zu verachten. Sein schwarzes Haar kräuselte sich in seinem Nacken – Wilma hätte ihn am liebsten sofort dorthin geküsst. Wenn er sie heute fragen würde, sie würde ihn nicht von der Bettkante schubsen, nahm sie sich vor.
Ricardo arbeitete als Schauspieler. Seine Erzählungen schmückte er wortgewaltig mit Theater-Anekdoten und seinen Erfolgen aus. Was sie aber noch mehr erstaunte, dass Ricardo sich für sie interessierte. Sie fand sich nicht besonders hübsch, vor allen Dingen hatte sie zu viele Kilos um die Taille, die sie sich in letzter Zeit aus Kummer angefuttert hatte. Denn vor nicht einmal drei Monaten ging ihr Verhältnis mit einem Stationsarzt in die Brüche. Er war zu seiner Frau zurückgekehrt. Noch einen Tag vor dem endgültigen Aus hatte er Wilma geschworen, er würde sich scheiden lassen. Und dann das: „Es ist wegen meinen Kindern“, erklärte er.
Eigentlich wollte sie so schnell keine neue Beziehung eingehen, zu tief waren die Narben. Konnte sie je wieder einem Mann vertrauen?
Aber sie wurde bald dreiunddreißig und ihre biologische Uhr lief ab, und nichts auf der Welt wünschte sie sich mehr, als zu heiraten und endlich ein Baby zu haben. Natürlich hätte sie sich ihren Kinderwunsch auch als ledige Frau erfüllen können, aber Wilmas Sehnsucht nach einer kompletten Familie war größer. Mann und Frau, Kind, Kinder. Eine heile Familie sollte es werden – ein Bollwerk gegen alles Übel. Nur noch mit Ekel erinnerte sie sich an ihre Eltern, denen sie schutzlos ausgeliefert gewesen war.
Ihre Mutter hatte weggeschaut, wahrscheinlich wollte sie es nicht wahrhaben, als es zum ersten Mal geschah, als ihr Vater sie anfasste. Was nicht sein durfte, geschah auch nicht, schien ihre Mutter zu denken. Vielleicht sah sie auch aus Scham weg oder weil sie nicht in einem Prozess |104| bloßgestellt werden, vielleicht auch weil sie den Ernährer nicht verlieren wollte. Wilma wusste es nicht. Es kam nie zu einer Aussprache mit ihrer Mutter.
Mit achtzehn flüchtete Wilma und kehrte nie mehr zurück. Irgendwie bekamen die Eltern ihre Adresse heraus. Die Briefe ihrer Mutter schickte sie ungeöffnet zurück und legte das Telefon wortlos auf, als sie die Stimme ihres Vaters erkannte. Nach einer Weile hörten die Lebenszeichen auf. Wilma wollte nicht mehr daran denken – genau so war es gut. Nur ihre Albträume konnte sie nicht verhindern. Oft wurde sie schweißgebadet wach. Als sie sich endlich durchgerungen hatte, ihren Peiniger anzuzeigen, war die Tat verjährt.
Vor Ricardo bestand Wilmas bisheriges Sexleben aus unzähligen One-Night-Stands. Am Morgen danach flüchtete sie, ohne ihre Telefonnummer zu hinterlassen, um der peinlichen Frage, ob man sich wiedersieht, aus dem Weg zu gehen. Längere Beziehungen, wie die mit dem verheirateten Kollegen, hatten in einem Fiasko geendet. Sie war nahe dran es aufzugeben, endlich einen Mann zu finden, der es mit ihr aushielt. Und nun dies: Nach nur zwei Monaten waren sie und Ricardo verheiratet. Als der Standesbeamte sie fragte: „Frau Wilma Bauer, wollen Sie den hier anwesenden Ricardo Fiori zum Mann nehmen?“, hätte sie vor Glück laut schreien können.
Ihre Freundin Eva, die als Trauzeugin fungierte, war von Anfang an skeptisch gewesen, was Ricardo anging. Er sei zu charmant, zu gut aussehend, um wahr zu sein.
Einmal, an ihrem ‚Frauentag‘, an dem die beiden Freundinnen zum letzten Mal vor der Hochzeit gemeinsam etwas unternahmen, und als Eva schon mehrere Prosecco getrunken hatte, stellte sie fest: „Ich finde, es ist zu früh, um zu heiraten, du kennst ihn doch gar nicht!“
Wilma hatte protestiert und vom Gleichklang der Seelen gesprochen, von ihrer Liebe und dass Ricardo etwas Besonderes sei. Und natürlich vom Sex. In dieser Hinsicht sei alles okay, wahnsinnig toll, ein Erdbeben, versicherte Wilma ihrer Freundin. Gleichzeitig aber dachte sie: Die ist nur neidisch, sie gönnt mir mein Glück nicht. Kurz nach ihrer Heirat rief sie Eva nie mehr an.
Als Wilma schwanger wurde, wäre sie glücklich gewesen, wenn nur nicht – ja, wenn sich Ricardo nicht schlagartig seit der Heirat verändert hätte.
|105| Er bemühte sich nicht um Engagements, sondern vertrödelte seine Zeit in italienischen
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