Blutkirsche
scharf.
„Geld heilt alle Wunden“, antwortete Günther Wöhrhaus pikiert.
Anne zeigte sich überrascht von der Entwicklung.
„Okay, wir werden alles überprüfen, auch den Zeugen, der dich gesehen hat. Vorerst bitte ich dich, nicht zu verreisen!“
„Einen Augenblick Anne, allein!“, bat Günther und zog Anne hinter einen Stützpfeiler.
„Ich habe eine DNS-Analyse von Julian und mir veranlasst. Du kannst dir denken, weshalb?“, flüsterte er.
„Das gehört jetzt wirklich nicht hierhin, wir sprechen ein anderes Mal darüber“, wiegelte Anne ab. Sie schüttelte Günther ab, als ob sie ein Ungeziefer beseitigen wollte. Sie folgte Marco zum Fahrstuhl.
Anne lernte Jorge Guzmán in Mexiko-Stadt kennen. Sie reiste allein. Weil sie es vermied, Englisch zu sprechen, und Spanisch in einfachen Sätzen beherrschte, nannten die Einheimischen sie nicht Gringa, was ein verächtliches Schimpfwort für Amerikanerinnen war.
Im Flugzeug von Deutschland nach Mexiko kam sie ins Gespräch mit drei Mexikanern, Bruder und Schwester und deren Ehemann, die ihr spontan die Telefonnummern gaben. Falls Anne Lust hätte, könne sie ja anrufen und vorbeikommen. Anne hatte lange überlegt, ob dies nicht nur eine Floskel sei, aber als sie anrief und die Reisebekanntschaft sie direkt freudig für den gleichen Nachmittag einlud, verflog ihre Skepsis.
Jorge Guzmán, ein anderer Bruder, war anwesend, als Anne das Haus betrat. Es lag in ‚Los Angeles‘, in einem von privaten Sicherheitskräften bewachten
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Stadtteil. Die Garage der Familie belegte eine ansehnliche Sammlung von amerikanischen Autos und Oldtimern.
Als Anne erzählte, sie wolle am nächsten Tag Tenochtitlán besuchen – den Aztekentempel vor den Toren Mexikos, auf dessen Stufen einst blutige Menschenopfer dargebracht wurden, das Herz wurde bei lebendigen Leibe herausgeschnitten. Jorge erklärte sich bereit, ihr alles zu zeigen. Es wäre ihm eine Ehre.
Jorge arbeitete als Archäologe, er hatte Urlaub und hatte vor, wie Anne in den nächsten Tagen die Maya-Kultstätten Palenque und Chitzén Itzá zu besuchen. Anne wollte ihren Aufenthalt zum Abschluss mit einem Badeurlaub an der mexikanischen Karibikküste verbinden. Da Anne nicht als Pauschaltouristin unterwegs war, sondern alles alleine geplant hatte, ergab es sich, dass sie zusammen das Flugzeug der Mexicana Airlines nach Tuxtla Gutiérrez bestiegen und gemeinsam ihre Reise fortsetzten. Überraschenderweise war Jorge nicht nur über die politische Entwicklung Deutschlands, über den Mauerfall und das Ende der DDR informiert, sondern entpuppte sich als amüsanter, kurzweiliger Erzähler der Sitten und Gebräuche seines Landes. Bestens vertraut mit der Maya-Kultur führte er Anne durch Yucatan und Chiapas.
Anne verliebte sich in ihn, es ergab sich. Vielleicht hätte sie anders gehandelt, wenn es in ihrer Ehe nicht schon kriselte. Jorge, ein hellhäutiger, feingliedriger Mann mit blau-schwarzen Haaren, ein Nachfahre eines spanischen Konquistatores, unterschied sich in allem von ihrem Ehemann.
Anne ignorierte Marcos fragende Blicke. Natürlich interessierte es ihren Assistenten brennend, was es da eben mit Günthers Heimlichtuerei auf sich hatte. Früh genug würde er alles erfahren.
„Von wem kam denn der Hinweis mit dem Mercedes?“, wollte Marco wissen, als sie wieder in ihr Auto stiegen.
„Anonym, aber die Kriminaltechnik hat herausgefunden, dass das Gespräch von einem öffentlichen Telefonhäuschen in Botnang aus geführt wurde. Es war eine weibliche Stimme!“
„In Botnang? Ich hab’ da so eine Ahnung. Wen haben wir denn von den Gärtnern aus Botnang?“ Marco schaute auf seinen Moleskine.
„Ruf doch mal mit deinem iPhone den Plan der Parzellen ab, das geht schneller“, empfahl Anne. „Und die Adressen!“
Marco tippte ein. „Frau Fiori von Garten Nummer 11 wohnt in Botnang, sonst keiner von den Schrebergärtnern.“
„Okay, ich vertraue deiner Ahnung. Wir haben doch die Adresse des Arbeitgebers?“
Marco nickte.
|101| „Dann ruf vorher noch in der Klinik an, ob sie Dienst hat. Wenn nicht, könnte Frau Fiori eventuell zu Hause sein. Oder vielleicht doch in ihrem Gütle?“, mutmaßte Anne und ergänzte den Satz nach einer Weile: „Das Wetter ist heute einigermaßen, und wie ich Hobbygärtner kenne, lassen die eine solche Gelegenheit nicht verstreichen. Außerdem ist es noch hell. Die Anlage liegt sowieso auf dem Weg.“ Und im Stillen fügte sie hinzu: Ich würde jetzt auch gerne
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