Blutkirsche
Margret.“ Dann übergab sie ihre Karte mit der Nummer ihres Diensthandys.
Die Besucherliste der Intensivstation wies eine Frau Schüle als Angehörige von Natalie aus. Anne ließ sich Adresse und Telefonnummer aufschreiben, die sie erst, nachdem sie ihre Polizeimarke zeigte, bekam. Sie las die Zeit auf ihrer Armbanduhr: Noch nicht zu spät, um nach Mannheim zu fahren. Für die Fahrt brauchten sie laut Navigationsgerät nur eine knappe Stunde, wenn alles gut ging.
„Dann drücken Sie mal auf die Tube, Chefin!“, sagte Marco und stieg in Annes Auto.
Auf der Autobahn staute sich die Schlange schon vor dem Weinsberger Kreuz auf zwanzig Kilometern Länge.
„Warte erst mal ab, bis die Sommerferien beginnen, dann wird es erst richtig heftig“, meinte Anne angesichts des stockenden Verkehrs und der Baustelle. Sie schaute ärgerlich auf ihre Uhr und das Navigationsgerät. Von wegen eine Stunde! Über zwei Stunden würde die Fahrt dauern! Und das bei diesem Sauwetter, der Himmel grau in grau.
Unterwegs fiel ihr ein, dass sie Julian versprochen hatte, den Elternsprechtag am Montag zu besuchen. Mist! Schon wieder keine Zeit gehabt. Julian war bestimmt sauer und das mit Recht. Aber morgen früh würde sie direkt zum Schulleiter gehen und sich beschweren, nahm Anne sich vor und beruhigte so ihr schlechtes Gewissen, dem im Augenblick eine Menge aufgebürdet wurde.
|137| „Über de Mannemer Brück, über de Brück“, intonierte Marco den Song von Joy Flemming. Anne wunderte sich, eigentlich war Marco zu jung, um Interpretin und Lied zu kennen.
„Müssen wir heute nicht drüber.“ Anne zeigte auf das Navi. Mit einem Mal roch es im Auto nach chemischer Industrie, schnell schaltete sie die Klimaanlage aus.
Das Viertel Jungbusch, ein Teil der Innenstadt von Mannheim, lag zwischen Neckar und Rhein. Anne fuhr über den Luisenring, das Minarett einer Moschee wurde sichtbar, dann machte sie eine Kehrtwende – eine Spur zum Linksabbiegen gab es nicht – und fuhr in die Einbahnstraße ein. Eine kleine, ungepflegte Grünanlage mit einem Spielplatz befand sich auf der linken Seite. Kaninchen hoppelten zwischen den Büschen und verkrochen sich darin, aufgeschreckt durch das Motorengeräusch. Hinter der Anlage sah Anne einen Kanal, an dem Container lagerten.
Einige Häuser der Straße aus der Gründerzeit waren saniert. Das Mehrfamilienhaus aus den Fünfzigerjahren, in dem Frau Schüle wohnte, wirkte heruntergekommen.
Im Hausflur roch es streng. Der Geruch ging in Gestank über, als Frau Schüle ihre Korridortür öffnete.
„Was gibt’s?“, fragte die dicke Frau in einem ausgebeulten Jogginganzug. An den Beinen klammerten sich etwa sieben Jahre alte Zwillinge und zogen den Eiter ihrer tropfenden Nasen lautstark hoch.
„Kripo Stuttgart, sind Sie Frau Dora Schüle? Dürfen wir reinkommen?“
„Ach so, ja“, antwortete die Schwester von Harry Kohl und ließ Anne und Marco eintreten.
Marco griff sich an die Nasenspitze, so als ob er sie reiben wollte. Im Wohnzimmer standen drei völlig verschmutzte Käfige, in denen sich Nager – Ratten und Mäuse – tummelten. Zwei Mischlingshunde sprangen kläffend an Anne hoch. Frau Schüle konnte sie nur mit Mühe wieder zurückpfeifen, packte sie grob an den Halsbändern und sperrte sie ins Badezimmer, wie Anne erkennen konnte.
„Entschuldigung, die Hunde müssten raus, aber mein Mann ist krank, und ich hatte noch keine Zeit“, erklärte Frau Schüle und zeigte auf ein Bündel Kleider und alte Wolldecken, unter denen sich jetzt ein Körper bewegte. Herr Schüle setzte sich auf und Anne sah einen ungepflegten Bart und fettige graue Haare, die der Mann sich mit den Händen aus dem Gesicht strich.
|138| Auf dem, mit braunen Kacheln ausgelegten Couchtisch standen mehrere Flaschen Bier und ein randvoll gefüllter Aschenbecher. Ein riesiger Flachbildschirm-Fernseher lief in voller Lautstärke. Die Zwillinge kauerten auf dem Boden davor und verfolgten aufmerksam eine Szene, in der gerade Jugendliche jemanden zusammenschlugen.
„Kommen Sie mit in die Küche“, sagte Frau Schüle. „Da können wir uns ungestört unterhalten, mein Mann wird sauer, wenn der Fernseher ausgemacht wird!“
„Müssten Ihre Kinder nicht bald im Bett sein?“, konnte Marco sich nicht verkneifen, zu fragen.
In der Küche stapelte sich ungewaschenes Geschirr in der Spüle, auf dem Gasherd standen Töpfe, in denen undefinierbare Essensreste vor sich hingammelten. Auf dem Tisch qualmte in einem
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