Blutkirsche
weiteren Aschenbecher eine halb ausgerauchte Kippe.
Frau Schüle wischte mit der Hand die speckig aussehenden Küchenstühle ab und bot Platz an. Anne dankte und blieb stehen. Ihr Hosenanzug war vorne von den Hundepfoten schon genug beschmutzt.
„Die Kinder, ja sicher, aber die haben noch kein Vesper. Ich schaffe das alles nicht mehr, mir wächst alles über den Kopf. Heute Vormittag bin ich wieder nach Stuttgart gefahren wegen meiner Nichte. Einer muss sich doch jetzt darum kümmern, jetzt wo mein Bruder nicht mehr lebt. Meine zwei Plagen ...“, Frau Schüle zeigte in Richtung Wohnzimmer. „Ich musste meine Zwillinge bei einer Freundin unterbringen, bei meinem Mann kann ich sie nicht lassen, der passt nicht auf. Einmal hätten sie uns fast das Dach über dem Kopf angezündet. Meine zwei Großen sind mir auch keine Hilfe, die sind dauernd unterwegs. Keine Ahnung, wo die sich rumtreiben. Ich weiß gar nicht, wie ich das schaffen soll, das mit dem Krankenhaus und auch mit der Beerdigung. Ich muss mit der Bahn fahren, weil wir kein Auto haben. Stundenlang bin ich jedes Mal unterwegs. Haben Sie eine Ahnung was jede einzelne Fahrt kostet? An das Geld von meinem Bruder komme ich auch noch nicht dran. Könnten Sie nicht da mal anrufen?“
Erwartungsvoll sah Frau Schüle die Polizisten an.
„Sie müssen sich beim Amtsgericht einen Erbschein holen, wir können da nichts machen“, erklärte Anne der sichtlich überforderten Frau und stoppte ihren Redefluss.
„Wir hätten da ein paar Fragen an Sie, wissen Sie, ob Natalie einmal schwanger gewesen ist?“
|139| „Natalie?“ Frau Schüle entrüstete sich. „Wieso Natalie, die ist doch noch zu jung dazu!“
„Nicht zurzeit, aber vielleicht früher einmal“, beschwichtigte Anne die Frau.
Frau Schüle bemühte sich inzwischen, ein paar Tränen zu fließen zu lassen. „Wissen Sie, ich kam mit meinem Bruder nicht so gut aus, wir haben uns manchmal jahrelang nicht getroffen. Das letzte Mal, vor seinem Tod, an der Beerdigung seiner Frau. Und da hab’ ich Natalie auch nicht gesehen, weil mein Bruder mir gesagt hat, sie wäre krank und könne nicht teilnehmen, was ich schon komisch fand. So krank kann man in dem Alter doch gar nicht sein, um nicht an der Beerdigung seiner eigenen Mutter teilzunehmen. Ich hab’ aber nicht weiter gefragt, sondern bin direkt nach dem Leichenschmaus nach Hause gefahren, weil die Zwillinge noch so klein waren und gequengelt haben. Ich hab’ genug eigene Sorgen, da brauch ich mir nicht die von anderen antun, schlimm genug, dass ich jetzt alles am Hals hab’.“
Frau Schüle wischte sich ihre Krokodilstränen ab und schnäuzte ein paar Mal in ein Papiertaschentuch.
„Noch eine letzte Frage: Wo waren Sie am vergangenen Samstag, den 9. Mai, zwischen sechs und zehn Uhr?“
Frau Schüle riss ihren Mund vor Entsetzen weit auf und Anne sah die Zahnlücken im Kiefer. Dann übertönte die Stimme der Frau lautstark die Filmdialoge im Nebenzimmer. „Wie? Verdächtigen Sie mich, meinen Bruder ermordet zu haben?“
„Wir verdächtigen Sie überhaupt nicht, das ist reine Routine, bitte beantworten Sie die Frage!“ Marco schien genervt, er wollte dringend aus der Wohnung. Auch Anne stank es, im wahrsten Sinne des Wortes.
„Geschlafen hab’ ich, später um zehn Uhr sind wir zur Tafel gedackelt, um Lebensmittel fürs Wochenende zu besorgen. Das können Sie nachprüfen. Wir müssen dort unseren Berechtigungsschein vorzeigen, der wird in eine Liste eingetragen.“
„Das werden wir, Frau Schüle, und besten Dank“, verabschiedete sich Anne.
Wieder auf der Straße und vor der Haustür schüttelte sich Marco angeekelt: „Brrr! Haben Sie das gesehen und gerochen, Chefin? Die Wohnung und die Käfige? Erinnern Sie mich daran, falls ich mir irgendwann einmal ein Haustier anschaffen will.“
Anne schüttelte den Kopf. „Du würdest sicher nur eines haben, wie ich dich kenne, und dann nicht so verwahrlosen lassen.“
|140| „Bestimmt, und wenn schon ein Haustier, dann aber bestimmt keine Ratten oder Mäuse. Die haben wir früher gejagt und getötet, als meine Eltern noch die Mühle für die LPG betrieben. Können Sie mir sagen, warum eigentlich die ärmsten Leute immer so viele Tiere haben? Das Futter kostet doch sicher eine Menge“, fragte Marco.
„Aus falsch verstandener Tierliebe vielleicht. Ich verstehe das auch nicht – statt in ihre Kinder zu investieren, aber dafür bleibt dann sicher nichts mehr übrig. Bei kleinen Hunden auf der
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