Blutkirsche
Straße flippen viele aus. Ach Gott, ist der süß, wird dann gerufen. Die dürfen auch überall hinscheißen. Kinder sind in unserer Gesellschaft nur lästig. Da werden Bolzplätze geschlossen, Grünstreifen dürfen nicht betreten werden, und sie sollen um Himmelswillen keinen Krach machen. Ich fände es sinnvoller, dass sich die Kinder und Jugendlichen beim Ballspielen in Parks aufhalten, anstatt vor dem Computer zu sitzen, weil sie nirgendwo erwünscht sind.“ Obwohl Anne es nicht mehr betraf, konnte sie sich über solche Anordnungen riesig aufregen.
„Unverschämt, ich denke Stuttgart nennt sich eine kinderfreundliche Stadt, davon merke ich aber nichts!“, rief Marco empört aus und fuhr fort: „Um jetzt noch mal auf unseren Besuch von vorhin zurückzukommen: Da wird anscheinend das Geld lieber für den neuesten riesigen Fernseher ausgegeben, aber fürs Essen langt es nicht! Dann werden die Lebensmittel bei der Tafel geholt. Viele Kinder bekommen noch nicht einmal eine warme Mahlzeit am Tag!“
„Ja, stimmt“, sagte Anne. „Ich erinnere mich daran, als Julian in die erste Klasse des Gymnasiums ging, stand jeden Morgen ein Schulfreund vor der Tür, er wolle Julian abholen, aber er war zu früh dran und frühstückte dann einfach mit. Julian erzählte mir später, dass dieses Kind von zu Hause fünfzig Cent für Chips oder Gummibärchen bekam, es solle sich sein Essen kaufen. Als ob das genug wäre! Oft hatte er auch gar kein Geld dabei. Meine Mutter hat einfach dann immer ein Brot mehr gestrichen und dem Jungen mitgegeben.“
„Was ist aus ihm geworden?“
„Die Eltern ließen sich scheiden und sind weggezogen. Julian hat keinen Kontakt mehr zu ihm. Übrigens trifft man Vernachlässigung sowohl in deutschen Familien als auch bei ausländischen Mitbürgern“, entgegnete Anne. „Bildung oder viel Geld muss nicht bedeuten, dass Kinder ohne körperliche oder geistige Schäden aufwachsen. Wie du weißt, sind Misshandlungen und Missbrauch von Kindern in allen Berufsgruppen und Bevölkerungsschichten vertreten.“
|141| Marco brummte ein „Ich weiß“. Er kannte die Statistik. Aber wahrscheinlich sahen sie sowieso nur die Spitze vom Eisberg.
„Auf! Lass uns jetzt nach Stuttgart fahren, der Regen hört überhaupt nicht auf. Für heute habe ich genug!“ Anne startete ihr Auto und legte den ersten Gang ein.
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|142| 12
Noch war alles ruhig, als Anne die Haustür öffnete. Sie sah kein Licht in der unteren Etage, ihre Mutter schien zu schlafen.
In ihrer Wohnung angekommen, hörte Anne, dass Julian in seinem Zimmer hockte und inzwischen mit voll aufgedrehter Lautstärke Pop-Musik hörte. Sie konnte den Interpreten nicht erkennen, es war aber nicht seine Lieblingsmusik: Ska, eine Musikrichtung, die ehemals aus Jamaika kam und sich aus Blues-, Jazz- und Rockelementen zusammensetzte. Julian spielte Ska-Kompositionen in der Band.
Anne klopfte an und steckte den Kopf ins Zimmer. „Nanu, schon zu Hause?“
„Das könnte ich dich auch fragen, du bist doch sonst nicht so früh!“, entgegnete Julian.
„Ach, ich muss hier was nachsehen, außerdem kann ich einiges auch von zu Hause aus im Internet recherchieren. Und du? Warum bist du hier und nicht mit Maria unterwegs?“ Anne konnte ihre Neugier nicht bremsen.
„Ich muss für die Lateinarbeit lernen, und Maria hat keine Zeit“, sagte Julian. Dann fügte er hinzu: „Oma hat was zum Essen in die Küche gestellt. Ansonsten gibt es noch Brot und Käse, etwas Schinken ist auch übrig geblieben.“
„Vielen Dank für deine Fürsorge.“ Anne freute sich über die heute vertauschten Rollen von Mutter und Sohn. Aber eigentlich hatte sie keinen richtigen Hunger, denn bevor sie sich zum Essen hinsetzen konnte, musste sie einem Verdacht nachgehen.
Als am Dienstagabend ihre Freundin Miri anrief und sie fragte, ob sie darüber Bescheid wüsste, was am nächsten Samstag geplant war, fiel Anne wie aus allen Wolken. Sie kannte Miri seit der Studentenzeit. Auch wenn sie danach verschiedene Wege gingen und oft unterschiedliche Ansichten hatten, blieb die Freundschaft über all die Jahre bestehen.
Miri war jemand, der immer irgendein Projekt verfolgte oder sich von Zeitströmungen mitreißen ließ. Sie arbeitete in einem Kibbuz, besuchte das Ashram in Poona, machte Sitzblockaden gegen Atomtransporte und |143| war jetzt Mitglied in mehreren Aktionsbündnissen, unter anderem gegen den geplanten Umbau des Bahnhofs – Stuttgart 21. Im Augenblick engagierte
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