Blutkirsche
ihre Freundin sich in einem Forum, das sich mit der Aufarbeitung der Geschichte Stuttgarts und den Tätern während der Nazizeit beschäftigte.
Eigentlich schade, dass ich sie nicht so oft sehe, überlegte Anne. Ihr blieb einfach keine Zeit. Jedes Mal, wenn sie sich vornahm, Miri zu treffen, kam irgendetwas dazwischen. Wenigstens telefonierten sie regelmäßig oder schickten Mails. Denn Miri brachte sie zum Lachen mit ihrer flippigen Art und den spöttisch lustigen Berichten. Ihre Freundin lebte von Luft und Liebe, wie sie von sich selbst behauptete, jedenfalls ging sie keiner geregelten Arbeit nach, sondern versuchte sich als Schriftstellerin, Malerin und manchmal auch als Schauspielerin, aber alles nur halbherzig und ohne wirklichen Erfolg. Miri lebte mit einem Bildhauer zusammen, der Skulpturen und Betonblöcke mit alten Wolldecken oder Mänteln beklebte oder Steckdosen darin einfügte. Seine Werke konnten in verschiedenen Galerien bewundert werden. Eigentlich hätte Anne sich gerne ein Objekt gekauft, aber sie wusste nicht wohin damit. In den Garten konnte sie das Kunstwerk wegen des Stoffes nicht stellen und die mit den Steckdosen passten sowieso nicht zu ihrem Einrichtungsstil.
Aber Miri reagierte darüber nicht sauer, was Anne an ihr schätzte.
Anne zog ihr Kostüm aus und schlüpfte in bequeme Tennisschuhe und in einen alten Jogginganzug. Für das, was sie vorhatte, war es genau das Richtige. Sie hatte keine Lust, ihre Dienstkleidung schmutzig machen oder sie an Holzspleißen der Dachbalken zu zerreißen, so wie das letzte Mal vor fünf Jahren, als sie etwas aus ihrem vorherigen Haushalt auf dem Dachboden abstellen wollte, es aber dann aufgegeben und der Umzugsfirma überlassen hatte.
Die Treppe ging eng, mit steilen Stufen, nach oben. Eine Vierzig-Watt-Glühbirne beleuchtete nur sparsam Wände und Aufgang. „Mist, total dreckig!”, fluchte Anne, als sie den Boden erreicht hatte. Auch hier brannte nur eine funzelige Birne. Anne war erleichtert, zusätzlich noch eine große LED-Taschenlampe aus ihrem Auto mit hinaufgenommen zu haben. Sie blickte sich suchend um.
Früher, als Sieglinde noch nicht verheiratet war, hatte sie des Öfteren mit Anne Verstecken gespielt. Anne mochte sich nie hier oben verkriechen, sie fürchtete sich vor dem unheimlichen Speicher. Auch jetzt überkam |144| sie so etwas wie Gänsehaut. Aber nicht aus Furcht vor Gespenstern oder Geistern, die sie aus Büchern kannte, sondern vor den Geistern der Vergangenheit. Mehrere Kartons, noch von ihrem Umzug, versperrten den Weg. Anne schob sie zur Seite.
Als sie über einen aufgerollten Teppich stolperte, musste sie von dem aufgewirbelten Staub niesen. Eine große hölzerne Kiste, die so alt aussah, als ob sie noch eine Reise mit der Postkutsche mitgemacht hätte, stand neben zwei ausrangierten Schränken und einer nicht minder antiquarischen Truhe. Im Korbkinderwagen, in dem schon Sieglinde ausgefahren wurde und sie selbst als Baby gesessen hatte, gammelte eine rosa Spitzenzudecke vor sich hin. Eine Anrichte aus dem achtzehnten Jahrhundert, die sie nicht mehr benutzte, weil es einmal ein Geschenk von Günther gewesen war, aber auch weil sie nicht mehr in ihre Wohnung passte, lagerte ebenfalls hier.
Überhaupt hatte Anne nach dem Aus ihrer Ehe nur wenige ihrer alten Möbeln mitgenommen, das meiste blieb bei Günther. Sie wollte neu anfangen und dazu gehörte auch eine neue Einrichtung. Nichts sollte mehr an das Fiasko, an ihr Scheitern erinnern. Natürlich war sie nicht unschuldig an dem Zerwürfnis gewesen. Eigentlich konnte sie im Rückblick gar nicht mehr sagen, an was es eigentlich gelegen hatte, um was es bei den Streitereien zwischen ihr und Günther ging. Vielleicht waren sie auch beide zu sehr mit ihrer Karriere beschäftigt gewesen. Dazu kam noch, dass sie sich die ganze Zeit, wenn sie Julian ansah, schuldig fühlte.
Früher dominierte ein reines Weiß in ihrem und Günthers Haus. Sie nannte es einen Eispalast, in dem das Herz gefror.
Nach ihrem Umzug hatte sich Anne zu mehr Farbe entschieden. Im Esszimmer hatte sie sich zu einer lila Wandfarbe durchgerungen, nicht Milka-Lila, sondern ein Kardinal-Lila. Auch wenn ihre Freundin Miriam meinte, es wäre eine depressive Farbe. Vor den Wänden hoben sich die wenigen englischen Palisanderholzmöbel und modernen Bilder deutlich ab.
Ihre Küche leuchtete in einem dunklen Rot. Und in ihrem Wohnzimmer herrschte die Farbe Pink vor. Das Schlafzimmer hatte eine türkise Wand, die
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