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Blutkirsche

Blutkirsche

Titel: Blutkirsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Weitbrecht
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Ruhe ausstrahlen sollte. Ihre Wohnung sah wie eine Theaterkulisse aus. Nur ihr Sohn hatte sich bei den Farben ausgeklinkt.
    „Ganz schön bunt, Ma“, urteilte er.
     
    Mittlerweile wurde es Anne heiß. Sie zog den Joggingsweater aus, ihr Achseltop genügte hier oben völlig.
    |145| Anne durchsuchte als Erstes die Kommode, aber in ihr konnte das Gesuchte nicht sein.
    Mit dem rostigen Schlüssel, der von außen im Schloss steckte, öffnete sie die Dienstbodenkammer, die nur selten als solche benutzt wurde. Jedenfalls konnte Anne sich nur an eine Frau, an Gretel erinnern, die auch im Haus wohnte.
    Sie war etwa sechs Jahre alt: Ihre Mutter stellte eine Frau ein, Gretel, sie sollte die groben Hausarbeiten erledigen. Seit einiger Zeit fühlte Magda sich nicht wohl. „Ich schaffe das nicht mehr, ich brauche unbedingt Hilfe“, hatte sie erklärt.
    Gretel, eine ‚Vertriebene‘, die in Berlin mit dreizehn das Kriegsende erlebt hatte, saß in lasziver Vamp-Pose auf dem Küchentisch, die Küche unter Neonlampen hell erleuchtet und sie trällerte wie Marlene Dietrich im Blauen Engel irgendeine Schlagerschnulze. Urplötzlich hielt Gretel einen Esslöffel mit einem weißen Pulver in der Hand und bot ihn Magda und auch ihr kokett an, drängte sie: „Hier, wollen Sie Zucker? Essen Sie! Nehmen Sie, Frau Wieland, leckerer Zucker! Iss nur, Kleines!“
    Magda stutzte, dankte, ihr wäre nicht nach Zucker und die Frau schob den Löffel in den Mund. Sie verließ den Hintern schwenkend und singend die Küche.
    Am nächsten Morgen lag Gretel steif und tot in ihrer Kammer auf dem Eisenbett. Es war Annes erste Leiche, die sie sah. Nur wenige Wochen später verließ der Sarg mit ihrem Vater das Haus.
    Als Anne ihre Mutter in späteren Jahren danach fragte, erklärte sie, Gretel hätte sich mit Rattengift umgebracht, weil sie ein uneheliches Kind erwartete. „Ach, das hast du geträumt, sie hat uns kein Gift auf dem Löffel angeboten. Was du nur immer denkst!“ Entrüstet hatte ihre Mutter Annes Erinnerung zur Seite geschoben.
    Aber Anne wusste, es war kein Traum. Sie sah noch ganz genau das Gesicht des Dienstmädchens und ihre blonden Zöpfe, die zu einem Dutt zusammengebunden waren, vor sich. Auch den Löffel und das weiße Pulver darin, das im grellen Licht der Neonlampe nicht glänzte, sondern stumpf im Löffel lag.
    Gretel hätte beinahe sie und ihre Mutter vergiftet. Anne konnte sich bis heute nicht erklären, was Gretel zu so einem Tun bewegt hatte. Warum sie so unglücklich gewesen war, und warum sie ihre Dienstherrin und deren Tochter mit in den qualvollen Tod hatte nehmen wollen.
     
    |146| Die Tür knarrte, als Anne sie aufstieß. Die Spinnenweben zwischen Rahmen und Türblatt zerfetzten und hingen in langen Schnüren herab. In dem nur etwa sieben Quadratmeter kleinen Raum stand ein verrostetes Eisenbettgestell mit einer schwarzweiß gestreiften durchgelegenen Rosshaarmatratze. Ein blinder Spiegel war an der Wand befestigt. An der Innenseite der Holztür hatte jemand etwas eingekratzt, Anne konnte es nicht entziffern. Der Blick aus dem verdreckten vergitterten Fenster ging in den Garten. Anne versuchte das Fenster zu öffnen, aber es klemmte.
    Ein altes Grammophon stand auf dem von Holzwürmern zerfressenen Reisesekretär.
    Hoffentlich hat der Holzbock nicht Partys gefeiert und die Dachbalken befallen! Anne klopfte mit dem Handrücken gegen das Holz. Sie musste unbedingt einen Fachmann zur Diagnose holen, bevor es zu spät war.
    Als sie das Grammophon ausprobierte, erklang die verkratzte und blechern wirkende Stimme Zarah Leanders. Schnell nahm sie die Nadel von der Schelllackplatte wieder ab, damit ihre Mutter nicht aufwachte. Aber da Magda Julians Musik nicht geweckt hatte, obwohl sie immer über einen leichten Schlaf klagte, würde sie es jetzt hoffentlich auch nicht.
    Magda stieg nicht gerne auf den Dachboden – Anne hatte sie jedenfalls in den letzten Jahren nicht dabei gesehen. Ein Indiz dafür waren die Unmengen von unnutzen und kaputten Gegenständen in Magdas Wohnung, die eigentlich aufgeräumt gehörten. Aber das, wonach Anne suchte, hatte ihre Mutter mit Absicht schon nach Kriegsende hier versteckt und würde es, falls sie es vor ihr fand, verschwinden lassen.
    Sie tastete alle Schubladen des Möbelstückes ab, fasste hinter die einzelnen Fächer, spürte das Holz, bis sie einen Hohlraum, das Geheimversteck entdeckte und dort ein Notizbuch mit einem fleckigen Einband aus chinesischem Seidenpapier hervorzog. Sie

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