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Blutkirsche

Blutkirsche

Titel: Blutkirsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Weitbrecht
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roch daran: Mottenkugeln. Auf dem Deckblatt stand in der Schrift ihrer Mutter: Tagebuch 1943−1966.
    Nicht das, was sie finden wollte. Im ersten Augenblick überlegte Anne, das Tagebuch wieder zurückzulegen. Sie scheute sich in die Privatsphäre ihrer Mutter einzudringen. Aber dann dachte sie daran, dass Magda ihr nie die Wahrheit erzählt hatte und es auch wahrscheinlich nie tun würde. Sie hatte es immer geahnt, dass Magda etwas verbarg. In ihren früheren Gesprächen, als Anne studierte und das Thema Drittes Reich – Nationalismus und NS-Verbrechen – in der Fakultät behandelt |147| wurde, und sie ihre Mutter nach ihren Erlebnissen fragte, wiegelte Magda immer ab: „Ach, lass doch die alten Geschichten, ich weiß das nicht mehr so genau.“
    Anne ließ sich damals abwimmeln, zuerst aus Bequemlichkeit, dann, weil sie nicht mehr zu Hause wohnte, später weil sie ihre eigenen Sorgen in ihrer Ehe bewältigen musste. Aber jetzt war es notwendig, zu forschen. Sie verfolgte die richtige Spur, hier irgendwo mussten die Unterlagen sein.
    Das Tagebuch nahm Anne an sich und ging wieder zurück in den großen Speicherraum. Sie legte es ab. Zuerst inspizierte sie einen der Schränke. Aber darin standen nur Schuhschachteln mit Weihnachtsdekoration. Noch aus Beständen der Fünfziger- und Sechzigerjahre, erkennbar am spröden Weihnachtspapier, den unzähligen Lamettapackungen und den angelaufenen silbernen Kugeln, jede einzeln in dünnem Papier eingewickelt. Zu Eiszapfen geblasener Baumschmuck klirrte wie richtige Eiszapfen, als sie aneinanderstießen. In einer Schachtel entdeckte sie Strohsterne und Engel aus Nudeln, die sie im Kindergarten gebastelt hatte. Dazwischen ruhten Mumien von Mehlmotten.
    Der Schlüssel zur Truhe mit den Initialen H. W. fehlte, aber Anne fischte aus einem blinden Marmeladenglas im zweiten Schrank mehrere alte Schlüssel heraus und probierte jeden einzelnen aus, bis sie den richtigen fand. Aus der Mode gekommene Kleider, Hüte, Kappen und eine altmodische Nerzstola, die inzwischen wie ein räudiger Hund aussah, füllten die Truhe. Alles wahrscheinlich noch aus den besseren Zeiten vor Kriegsende.
    Darunter lagen zwei beigefarbene Kladden, die mit Gummiringen zusammengehalten wurden. Die Bänder zerbröselten, als Anne die Akten herausnahm und sie herunterschob. Sie setzte sich auf einen filigranen Eisenstuhl, der wie ein Stuhl einer italienischen Eisdiele der Sechzigerjahre geformt war. Früher stand er in ihrem Garten. Im Schein der Taschenlampe blätterte sie in den Ordnern.
     
    In dieser Nacht hatte Anne noch schlechter als sonst geschlafen, zu sehr wühlte sie das Gelesene auf. Im Augenblick wusste sie nicht, welche Konsequenzen die Information hatte. Sie musste mit ihrer Mutter eine Aussprache führen. Aber heute vor dem Dienst bestimmt nicht, das Gespräch konnte lange dauern. Das Tagebuch musste ebenfalls warten. Sie hatte es mitgenommen, obwohl sie noch immer hin und her überlegte, ob sie überhaupt dazu ein Recht hatte. Es steckte nun in ihrer großen |148| Umhängetasche. Vielleicht ergab sich im Büro eine Gelegenheit, es zu lesen.
    Um neun Uhr war die Besprechung mit Berger und dem Staatsanwalt angesetzt. Auch der neue Dezernatsleiter wollte anwesend sein, um sich ein Bild von der Abteilung zu machen. Anne war schon gespannt, wie sie mit ihm auskommen würde. Bei Berger hatte sie immer den Eindruck gehabt, dass er sie trotz seiner jovialen Art nicht richtig ernst nahm.

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    Anne betrat bereits um acht Uhr ihr Zimmer im Präsidium. Sie fühlte sich wie erschlagen. Dazu kam das schlechte Wetter, das jede gute Laune im Keim erstickte. Sie hatte außerdem zu viele Espressi getrunken.
    Marco fehlte, hatte aber eine SMS geschickt, er wäre nun unterwegs, aber spät dran, weil er vorher dringend für das Baby Fencheltee besorgen musste. Das Baby sei krank, seine Mutter wolle bei ihm zu Hause bleiben.
    Anne sammelte inzwischen für den Vortrag die Ergebnisse ihrer bisherigen Untersuchung zusammen. Der Kriminaltechniker rief an, es würde noch etwas dauern, er hätte zu viel Geschäft wegen des Busunglücks am Engelbergtunnel.
    Die Tür ging und Jochen Sommer betrat den Raum. Zu früh, wie Anne erkannte, gleichzeitig verspürte sie ein Kribbeln in ihrem Bauch.
    Jochens prüfender Blick fuhr über ihr Gesicht. „Morgen Anne, nicht gut geschlafen?“
    Also sah man es ihr trotz Make-ups an, wie es ihr erging. „Na ja, einigermaßen“, entgegnete Anne. Das fehlte noch, dass

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