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Blutkirsche

Blutkirsche

Titel: Blutkirsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Weitbrecht
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Kolonialisierung nicht viel verändert. Die Zapatistos fordern ein Leben ohne Abhängigkeit von Großgrundbesitzern, soziale Gerechtigkeit, autonome Selbstverwaltung, eine bessere Schulbildung, denn die meisten sind Analphabeten. Das Gesundheitssystem müsste reformiert werden. Zwar ist die Erste Hilfe umsonst, aber ab da muss jede ärztliche Maßnahme selbst bezahlt werden. Viele Indios können sich noch nicht einmal lebensnotwendige Medikamente aus der Apotheke kaufen. Noch immer stellen Mais und Bohnen für sie das Hauptnahrungsmittel dar.“
    „Und weshalb halten wir jetzt nicht an und helfen den Gestrandeten?“, wollte Anne wissen. Bisher hatte sie Mexiko als ein Urlaubsland gesehen, aber seine Geschichte und die sozialen Probleme beiseitegeschoben.
    „In letzter Zeit gab es vermehrt Carjackings, vielleicht haben die Zapatistos unsere Reiseroute ausgekundschaftet und wollen uns kidnappen – Lösegeld erpressen. Das willst du doch sicher nicht!“, erklärte ihr Reisebegleiter Anne, die nach hinten blickte und wild gestikulierende aufgebrachte Indios stehen sah.
    „Auch meine Familie besitzt Latifundien, die von schlecht entlohnten Campesinos bewirtschaftet werden. Ich habe mich mit meinem Vater darüber zerstritten und bin nun sozusagen das schwarze Schaf der Familie!“ Jorges Stimme klang scharf, als er Anne seine Geschichte erzählte.
     
    Als Archäologe hatte Jorge die Erlaubnis, außerhalb der Besuchszeiten die Anlage zu besuchen. Schon dämmerte es, als sie die Absperrung hinter sich ließen und die Wege betraten.
    Der Dschungel eroberte mit jedem Tag ein Stück mehr die versunkene Pyramidenanlage, Steinmauern und Paläste. Moos überzog die Stelen, Wege und Treppen. Es war schwül, nass, das Wasser drang durch alle Schichten der Kleidung. Dunst vernebelte das Objektiv der Kamera, bevor der immerwährende Regen durch die Kamera eindrang und den Film zerstörte.
    Die Stele vor dem Palast mit einem Turm, zeigte die Emblemglyphe. Logogramme, Bild - und Silbenzeichen sowie Punkte des Zwanziger-Zahlensystems im Stadtwappen von Palenque bildeten ein Relief.
    „Die Mayas besaßen fast 800 Schriftzeichen. Es ist nicht ganz geklärt, ob es sich bei den Logogrammen ausschließlich um das Wappen oder um Namen von Schutzpatronen, vielleicht auch die von machthabenden Dynastien handelt“, erklärte Jorge.
    Anne bemerkte über dem Tierkopf ein eingemeißeltes Zeichen, das lustig aussah, und Ähnlichkeit mit der Comicfigur Lisa aus den Simsons hatte.
    Die Treppen der Stufenpyramide waren steil und ungewöhnlich schmal. Anne konnte ihren Fuß nur schräg aufsetzen, um im Krebsgang die Stufen bis zur
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Plattform zu erklimmen. In der Krypta, die tief im Inneren des Tempels lag, herrschte klaustrophobische Enge. Der Sarkophag war leer. Archäologen hatten einst hier Überreste des Mayafürsten, seine Jademaske und Schmuck gefunden. Neben ihm lagen Skelette von geopferten Jünglingen. Ihre Hinrichtung haben Anthropologen forensisch gesichert.
    „Dieses Logogramm“, erklärte Jorge die Ereignisglyphen an den Wänden, „dieses Zeichen zeigt die Geburt, Inthronisation, Tod des Herrschers Pakal und seiner Familie.
    Die hier mit einer ,Hand mit Fisch‘-Glyphe geschriebene, erzählt von Kriegszügen und rituellen Blutopfern. Die Mayas waren nicht, wie lange angenommen, ein friedliebendes Volk. Priester töteten Sklaven, Feinde und scheuten sich nicht, Kinder zu opfern. Sie warfen junge Männer in die Cenote – in unterirdische Brunnensysteme – und köpften Sieger nach Ballspielen. Selbstverstümmelung mit Blutopfer gehörte ebenfalls dazu. Nach unseren heutigen Maßstäben ist es barbarisch und grausam, aber die Maya-Religion verlangte dies zu Ehren der Gottheit und ihres Fürsten. Auch in der christlichen Geschichte gibt es Märtyrer und Selbstgeißelung − dass eine Hostie zu Blut und Leib Christi verwandelt wird, mag für manche Nicht-Christen unverständlich erscheinen.“
    Anne hätte gerne Jorge noch länger zugehört, aber inzwischen herrschte fast absolute Dunkelheit, nur eine Mondsichel erleuchtete die Monumente längst verflossener Geschichte.
    „Lass uns gehen“, bat Anne. Mit einem Mal fürchtete sie sich länger an einem Ort zu verweilen, an dem einst Menschenleben geopfert wurden und Blut floss.
    Die Selva erwachte. Tiere schrien, glühende Augen starrten aus dem Dickicht. Die Bäume sahen nun gigantisch und drohend aus. Die Gefahren des Regenwaldes waren fast greifbar, sie krochen langsam auf

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