Blutkirsche
musste sein.
„Du weißt doch noch, dass deine Zahnbürste fehlte?“
„Jaaa?“
„Nun, dein Vater ...“ Anne überlegte, das Wort ‚Vater‘ stimmte absolut nicht. Sie begann von Neuem.
„Es wurde ein DNS-Test von dir und Günther veranlasst. Es ist so, dass Günther Wöhrhaus, den du als deinen Vater kennst, nicht dein biologischer Erzeuger ist.“ Annes Stimme versagte, sie musste schlucken, in ihrem Hals steckte ein imaginärer Kloß.
Die Tränen schossen ihr in die Augen. Diese Beichte nahm sie emotionaler mit, als ihr Gespräch mit ihrem Ex-Mann.
„Aber Ma, das habe ich schon immer gewusst. So wie ich aussehe mit meiner Haarfarbe, der Augenfarbe und dem Hauttyp – offensichtlich nicht von dir geerbt – kann ich gar nicht der Sohn von Papa ... Günther sein. Ich sage nur Mendel‘sche Regeln!“
Ja, das stimmt, überlegte Anne. Söhne ähnelten meistens ihren Vätern, Töchter ihren Müttern. Auch bei ihr und Magda verhielt es sich so. Auch viele Verhaltensmuster hatte sie unbewusst von ihrer Mutter übernommen – erst jetzt wurde ihr das klar.
„Ma“, unterbrach Julian ihre Gedanken. „Soviel ich mich erinnere, hat sich Pa... Günther nie richtig um mich gekümmert. Schon als Kind habe ich es geahnt und geglaubt, es läge an mir. Ehrlich gesagt, vermisse ich ihn gar nicht. Ich hab’ ja dich und Oma.“
Anne sah erleichtert auf. Ihr Gang nach Canossa verlief besser, als sie gehofft hatte. Vor allen Dingen verblüffte sie die Logik ihres Sohnes. Er wirkte mit einem Mal so erwachsen. Zugleich machte sie seine Bemerkung: „Ich dachte, es läge an mir“, traurig. Was musste in seinem kleinen Kopf vorgegangen sein, als er dachte, er sei schuld, dass sein Vater ihn nicht liebte? Zärtlich fuhr sie durch Julians Haare.
Diesmal kam kein „Lass das“, sondern Julian lehnte sich an sie und legte seinen Kopf auf ihre Schultern.
„Und was geschieht jetzt weiter?“, wollte Julian wissen.
|183| „Günther wird eine Vaterschaftsanfechtung bei Gericht vorbringen, und du wirst dann deinen Nachnamen ändern müssen, in Wieland.“
„Das ist mir egal, ich fand das sowieso blöd, anders als du zu heißen, meine Kumpels meinten auch, das sei irgendwie merkwürdig.“
So leicht habe ich mir unser Gespräch nicht vorgestellt, dachte Anne. Sie spürte, wie eine tonnenschwere Last von ihrer Seele plumpste.
„Aber eines musst du mir versprechen!“, sagte Julian nach einer Weile.
„Ja, was denn?“, fragte Anne.
„Du musst mir von meinem richtigen Vater erzählen und ...“
„Und ...“
„Dass ich ihn einmal kennenlerne!“
Anne wusste nicht, ob sie es Julian versprechen konnte.
Als ihr Sohn wieder in sein Zimmer ging, zog Anne das Tagebuch ihrer Mutter aus der Umhängetasche und hielt es unschlüssig in der Hand. Sie ging in ihr Schlafzimmer, schloss die Tür hinter sich und legte es aufs Bett. Aus der Schublade des Verwandlungstischs aus Mahagoni, in den ein aufklappbaren Spiegel eingearbeitet war – eine Leihgabe ihrer Mutter, ein wertvolles Stück – nahm sie einen Schnappschuss von Jorge Guzmán hervor und schaute ihn lange an. Falls Jorge noch lebte, wie würde er es aufnehmen, dass er einen Sohn hatte? Vielleicht würde er sich freuen? Er könnte aber auch Julian ablehnen. Und wie würde es seine Familie aufnehmen, wenn da plötzlich ein völlig fremder Junge seinen Platz und sein Erbe beanspruchte? Anne überlegte, ob sie überhaupt bereit war, Jorge zu treffen. Immerhin waren fast sechzehn Jahre vergangen, und vieles hatte sich verändert, vieles war geschehen. Verband sie noch etwas außer Julian?
Schluss jetzt Anne, verschiebe die Entscheidung auf morgen.
Sie legte das Bild zurück, zog die kleine Maske aus grünem Edelstein heraus – eine Replik und ein Abschiedsgeschenk von Jorge.
Dort wo das Bergland von Chiapas in die weite Ebene Yucatans überging, lag die Maya-Stadt Palenque, die sich terrassenförmig an die Hügel schmiegte, umgeben von dichtem Regenwald. Bäche und Rinnsale durchzogen die Tempelanlage. Einst Reich der Mayas bevölkerten noch wenige Nachfahren, nicht christianisierte Lacondonen, die Selva rund um San Christobal de las Casas. Auf der Fahrt vom Hotel zur Ruinenanlage sah Anne wegen einer Autopanne liegen gebliebene Männer am Straßenrand stehen. Jorge fuhr, ohne anzuhalten, rasch vorbei. „Zu gefährlich, es könnten Zapatisten sein – Indios. Zweidrittel unserer
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Bevölkerung gehören dazu. Ihre Situation hat sich seit der
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