Blutkirsche
Zukunft nicht sein. Das Motiv lag immer noch im Dunklen, wenn keine Fakten oder neuen Gesichtspunkte auftauchten, würde es noch lange dort liegen. Außerdem forderte ihr Gerechtigkeitssinn eigentlich die vollständige Aufdeckung eines Verbrechens und die Bestrafung der Täter.
Gerechtigkeit: Wie sie es sah, einer der wirklichen Tugenden, Merkmal eines demokratischen Staates. Aber keine Demokratie konnte bestehen, würde man nur den Gesetzen gehorchen, die man billigt. Sollte ein Gesetz ungerecht sein, so war es gerecht, es zu brechen. Einen Tyrannenmord zu begehen, der Widerstand gegen das Nazi-Regime war gerecht.
Gerechtigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz. Justitia wird deshalb mit verbunden Augen und Waage dargestellt, um ein gerechtes und ausgewogenes Urteil zu symbolisieren. Gerechtigkeit und Rechtlichkeit vor Gericht, aber kein Richter verurteilte alle Angeklagten zur selben Strafe. Diese musste immer im Verhältnis zum Delikt stehen, davon war Anne überzeugt.
Andererseits bedeutete Gerechtigkeit auch gerechtes Aufteilen und soziale Gerechtigkeit. Das hieß aber nicht, dass jeder gleich viel verdiente oder die gleichen Noten in der Schule bekam, dass alle Güter gleich verteilt wurden, unabhängig von Intelligenz und Ausbildung. Dies ist utopisch, ein Wunschdenken, fand Anne.
Als Kind empfand sie es als ungerecht, dass ihre Mutter Sieglinde bevorzugte und ihre ältere Tochter mehr als sie liebte. Noch immer war in ihrem Innersten ein Groll, den sie zu ignorieren versuchte.
‚Vielleicht bin ich deshalb nach meinem Jurastudium zur Polizei gegangen. Sieglinde!‘
Bis jetzt blieben Annes Telefonanrufe umsonst und die Mailnachrichten unbeantwortet.
Anne dachte an die Verfolgungsjagd durch Stuttgart.
|181| Warum flüchtete Wilma Fiori und fand den Tod? Hatte sie das schlechte Gewissen getrieben, oder erkannte sie ihre aussichtslose Situation? Was wollte sie bei Natalie Kohl? Sie besuchen oder eine Mitwisserin beseitigen? Ihr als Krankenschwester wäre es bestimmt nicht schwergefallen, einen tödlichen ‚Zwischenfall‘ zu provozieren. Diese Fragen würden wohl für immer unbeantwortet bleiben. Auch die Frage, warum sie zur Mörderin wurde. Fiori – eine zweifache Mörderin. Denn der Ehegatte im Beet wie auch die Tat an Kohl ließ diese Vermutung glaubhaft erscheinen. Anne war der Überzeugung, dass der Mensch mit vielen Persönlichkeiten geboren wurde. Fiori hätte die Möglichkeit gehabt, eine andere als die einer Mörderin zu wählen, aber sie starb mit dieser einen Identität. Und sie starb einsam, ohne die Möglichkeit, ihre Taten zu bereuen.
Wer beging einen Mord? Monster oder Psychopathen? Manche Wissenschaftler meinten, es seien Menschen, die selbst Gewalt erlebt oder eine problematische Kindheit hatten. Aber nicht alle Kinder mit einer solchen Vergangenheit wurden später Mörder oder Kriminelle.
Ein Mord wog schwer. Wog ein Völkermord schwerer als ein Mord an einem Einzelnen? Welches Strafmaß konnte angemessen sein: Lebenslang? Doppelt lebenslang? Hundertfach?
Und wie sah es mit der Resozialisation aus? Konnte die Haft aus einem Kinderschänder einen Menschen ohne diese Perversion machen? Manche dieser Täter kamen nach wenigen Jahren frei. Selbst wenn sie Tabletten einnahmen, um ihren Sexualtrieb zu unterdrücken, kontrollierte dies niemand nach ihrer Entlassung. Die Opfer litten ein Leben lang unter dem Missbrauch. Wo blieb hier die Gerechtigkeit?
Ihr schwirrte der Kopf. Schluss jetzt Anne, ermahnte sie sich. Morgen ist auch noch ein Tag. Der Fall war für sie noch nicht abgeschlossen, es gab noch einige Dinge zu erledigen.
Sie fuhr ihr Auto in die Garage. Die Tür zu Julians Zimmer stand offen, und er saß vor seinem Computer, als sie ihre Wohnung betrat. Ihre Umhängetasche und den Blazer legte sie achtlos auf einen Sessel.
„Na?“, fragte Anne.
„Selbst na!“, antwortete Julian.
„Mach doch mal deinen Rechner aus“, bat Anne ihren Sohn.
„Warum? Was ist los?“, verwundert sah Julian zu ihr hin.
„Ich möchte etwas mit dir bereden, komm doch mal ins Wohnzimmer und setz dich zu mir.“
|182| Nur zögerlich fuhr Julian seinen Rechner herunter und folgte Anne ins Wohnzimmer.
Sie klopfte mit der Handfläche auf das Sitzpolster des Sofas, und Julian nahm Platz.
„Was gibt es denn so Dringendes? Hab’ ich was angestellt?“, fragte der Fünfzehnjährige.
„Nein, du nicht! Aber ich vor langer Zeit.“ Anne stockte. Es fiel ihr schwer, den Anfang zu finden, aber es
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