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Blutklingen

Blutklingen

Titel: Blutklingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Abercrombie
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Schnee mehr, aber es gab hier tiefe Verwehungen, die funkelten, als sich allmählich das Morgenlicht durch den Wald tastete. Unter ihren Füßen knirschte es, ihr Gesicht prickelte vor Kälte. Vor ihr lichteten sich die Bäume allmählich, und sie lief schnell weiter in der Hoffnung, vielleicht auf Felder zu sehen oder auf blumenbestandene Täler oder auf eine schmucke Stadt, die sich an die Berghänge schmiegte.
    Sie kam am Rand einer schwindelerregenden Klippe ins Freie und blickte von weit oben über ein wüstes Land, scharfkantigen schwarzen Wald und nackten schwarzen Fels, hier und da bedeckt von Streifen und Flecken weißen Schnees, der zu langen grauen Schatten verblasste, ohne dass Menschen oder Farben zu erkennen gewesen wären. Kein Hinweis auf die Welt, die sie gekannt hatte, keine Hoffnung auf Rettung, keine Wärme mehr von der Erde unter sich, alles war innerlich und äußerlich kalt, und Ro hauchte in ihre bebenden Hände und fragte sich, ob sie am Ende der Welt angekommen war.
    »So sehen wir uns wieder, Tochter.« Waerdinur saß im Schneidersitz hinter ihr, den Rücken an einen Baumstumpf gelehnt, den Stab oder Speer – Ro wusste noch immer nicht, was das eigentlich war – in eine Armbeuge geklemmt. »Hast du Fleisch in deinem Bündel? Ich war auf diese Reise nicht vorbereitet, und es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich dich einholen konnte.«
    Schweigend reichte sie ihm einen Streifen Dörrfleisch und setzte sich neben ihn, und sie aßen. Und sie merkte, dass sie froh war, dass er gekommen war.
    Nach einer Weile sagte er: »Es kann schwer sein, loszulassen. Aber du musst begreifen, dass die Vergangenheit abgeschlossen ist.« Damit zog er die Drachenschuppe wieder hervor, die sie zurückgelassen hatte, legte ihr die Kette um den Hals, und sie versuchte nicht, ihn daran zu hindern.
    »Scheu wird kommen …« Aber ihre Stimme klang dünn, ausgezehrt von der Kälte, erstickt vom Schnee, verloren in der großen Leere.
    »Vielleicht ist es so. Aber weißt du, wie viele Kinder zu meinen Lebzeiten schon hierhergekommen sind?«
    Ro erwiderte nichts.
    »Hunderte. Und weißt du, wie viele Familien gekommen sind, um sie zurückzuholen?«
    Ro schluckte und erwiderte nichts.
    »Keine.« Waerdinur legte seinen großen Arm um sie und hielt sie fest und warm. »Du bist jetzt eine von uns. Manchmal wollen uns Menschen aus freien Stücken verlassen. Manchmal werden sie dazu gezwungen. So war es bei meiner Schwester. Wenn du wirklich gehen willst, wird dich niemand aufhalten. Aber es ist ein langer, harter Weg, und wohin? Die Welt da draußen ist ein rotes Land, ohne Recht, ohne Bedeutung.«
    Ro nickte. So viel hatte sie selbst gesehen.
    »Hier hat das Leben einen Sinn. Hier brauchen wir dich.« Er stand auf und streckte die Hand aus. »Kann ich dir eine wunderbare Sache zeigen?«
    »Was für eine Sache?«
    »Den Grund, weshalb uns der Schöpfer hier zurückgelassen hat. Der Grund, aus dem wir bleiben.«
    Sie nahm seine Hand, und er hob sie ganz leicht auf seine Schultern. Sie legte ihre Handflächen auf die weichen Stoppeln auf seiner Kopfhaut und sagte: »Können wir morgen meinen Kopf rasieren?«
    »Wann immer du dazu bereit bist.« Und er ging den Berg hinauf, den Weg, den sie zuvor heruntergekommen war, und folgte ihren Fußstapfen im Schnee.

IV
    DRACHEN
    »Es gibt viele spaßige Dinge in der Welt;
    eines davon ist die Vorstellung
    des weißen Mannes,
    dass er weniger wild ist
    als die anderen Wilden.«
    MARK TWAIN

ZU DRITT
    S cheiße, ist das kalt«, flüsterte Scheu.
    Sie hatten einen notdürftigen Schutz gefunden, in einer Senke zwischen gefrorenen Baumwurzeln, aber als der Wind auffrischte, fühlte er sich noch immer an wie ein Schlag ins Gesicht. Obwohl sich Scheu ein Stück Decke doppelt ums Gesicht geschlungen hatte, bis nur die Augen frei blieben, wurde ihr Gesicht davon rot und brannte, genau wie nach ein paar richtig ordentlichen Ohrfeigen. Sie lag auf der Seite und musste pinkeln, aber sie traute sich kaum, ihre Hosen herunterzuziehen, weil sie fürchtete, ihre ohnehin schon verdammt ungemütliche Lage dadurch zu verschlimmern, dass sie anschließend einen gelben Eiszapfen am Arsch haben würde. Also zog sie sich den Mantel fester um die Schultern, dann den überfrorenen Wolfspelz, den Süß ihr gegeben hatte und den sie über dem Mantel trug, bewegte die tauben Zehen in den eiskalten Stiefeln und drückte die gefühllosen Fingerspitzen gegen ihren Mund, um ihren Atem auszunutzen, solange sie

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