Blutklingen
Männer hatten trotzdem geweint, Lockweg noch bitterlicher als alle anderen.
Sangied hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt und gesagt: »Ich habe keine Angst um mich. Ich habe mein Leben gelebt. Um dich habe ich Angst und um die Jungen, die mir nachfolgen müssen und das Ende miterleben werden.« Lockweg hatte auch Angst. Manchmal glaubte er, sein Leben bestünde aus nichts anderem. Was war das für ein Dasein für einen Krieger?
Er ließ sein Pferd stehen und bahnte sich den Weg durchs Lager. Sangied wurde aus seiner Hütte gebracht, die Arme über die Schultern seiner beiden starken Töchter gelegt. Stück für Stück wich sein Geist aus ihm. Jeden Morgen war er weniger, dieser einst so mächtige Körper, vor dem die Welt erzittert war. Nur noch eine verwitterte Hülle.
»Was hat Süß gesagt?«, flüsterte er.
»Dass ein Trupp kommt und zahlen wird. Ich vertraue ihm nicht.«
»Er war stets ein Freund des Volkes.« Eine seiner Töchter wischte Sangied den Speichel aus dem schlaffen Mundwinkel. »Wir werden ihn treffen.« Und damit schlief er bereits wieder ein.
»Wir werden ihn treffen«, sagte Lockweg, aber er fürchtete sich vor dem, was geschehen würde.
Er hatte Angst um seinen kleinen Sohn, der erst vor drei Tagen zum ersten Mal gelacht und damit einer des Volkes geworden war. Dieser Augenblick hätte ein Anlass zur Freude sein sollen, aber Lockweg fühlte nichts als Angst. In was für eine Welt wurde dieses Kind hineingeboren? In seiner Jugend waren die Herden des Volkes stark und zahlreich gewesen, aber nun wurden sie von den Eindringlingen gestohlen, die guten Weiden wurden von den durchziehenden Trupps abgegrast, die Tiere erjagten nichts mehr, und das Volk hatte sich zerstreut und schlechte Gewohnheiten angenommen. Vorher hatte die Zukunft so ausgesehen wie die Vergangenheit. Aber nun wusste er, dass die Vergangenheit besser gewesen war, während in der Zukunft nur Angst und Tod warteten.
Aber das Volk würde nicht kampflos aufgeben. Und so setzte sich Lockweg neben seine Frau und seinen Sohn, als sich die Sterne öffneten, und träumte von einem besseren Morgen, von dem er wusste, dass er nicht kommen würde.
DER ZORN GOTTES
D iese Wolken da hinten gefallen mir gar nicht!«, schrie Lief und strich sich das Haar aus dem Gesicht, das der Wind immer wieder zurückriss.
»Wenn die Hölle Wolken hätte«, brummte Tempel, »dann würden sie wohl so aussehen.« Es stand ein grauschwarzer Berg über dem Horizont, ein dunkler Turm, der sich dräuend in die höchsten Sphären hob, die Sonne in einen blassen Fleck verwandelt hatte und den Himmel um sich herum in seltsame, kriegerische Farben tauchte.
Jedes Mal, wenn Tempel nachsah, war das bedrohliche Gebilde wieder ein Stück näher gekommen. Jeden Ort des ganzen, weiten Fernlands hätte es mit seinem Schatten überziehen können, und wohin bewegte es sich? Natürlich direkt über Tempels Kopf. Er schien die Gefahr wirklich magisch anzulocken.
»Lasst uns die Feuer anzünden und zu den Wagen zurückkehren!«, rief er, als ob ein paar Bretter und Planen sicheren Schutz gegen die drohende Himmelswut hätten bieten können. Der Wind machte ihnen ihre Aufgabe nicht leichter. Auch der Nieselregen nicht, der wenig später einsetzte. Und auch nicht der darauf folgende Regen, der peitschend aus allen Richtungen zu kommen schien und durch Tempels fadenscheinigen Mantel drang, als habe er überhaupt nichts an. Er beugte sich fluchend über den kleinen Haufen Kuhdung, der sich in seinen nassen Händen zügig in seinen ursprünglichen, wesentlich geruchsintensiveren Zustand verwandelte, während er mit einem glimmenden Stück Ast herumfummelte.
»Ist nicht gerade lustig, nasse Kacke anzubrennen, was?«, brüllte Lief ihm zu.
»Ich hab schon schönere Arbeit gehabt!« Obwohl den meisten Dingen, denen Tempel sich in seinem Leben gewidmet hatte, eine ähnlich abstoßende Sinnlosigkeit angehaftet hatte, wenn er nun darüber nachdachte.
Er hörte Hufschlag, drehte sich um und sah, wie Scheu sich aus dem Sattel schwang, den Hut fest auf den Kopf gedrückt. Sie musste recht nahe herantreten und gegen den immer stärker werdenden Wind anschreien, und Tempel war kurzzeitig abgelenkt, als er entdeckte, dass sich der oberste Knopf ihres nassen Hemds, das sich eng an ihren Körper schmiegte, geöffnet hatte und ein kleines Dreieck gebräunter Haut zeigte, umgeben von einem etwas blasseren Streifen, während die scharf gezeichneten Linien der Schlüsselbeine leicht
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