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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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leichte X-Beine.
    Anna folgte dem Berghang und den Abdrücken in den Wald aus verkrüppelten Fichten. Die Schatten wurden dichter, das Licht nahm ab, doch die Spur war weiterhin gut zu sehen. Anna vergaß, dass es bald dunkel werden würde.
    An einem kleinen Felsvorsprung, von rostbraunen Flechten bedeckt und mit dunklen Bäumen bewachsen, die vom Gewicht des winterlichen Schnees so niedergedrückt und gekrümmt waren, dass sie eher an kränkliche Büsche als an stattliche Fichten erinnerten, endete die Spur plötzlich.
    Anna verharrte einen Moment und blickte sich aufmerksam in alle Richtungen um. Am Fuß des Felsens befand sich eine etwa einen Meter breite und ebenso hohe Spalte: der Eingang zu einer kleinen Höhle, zum Teil verdeckt von den knorrigen Ästen einer gedrungenen Fichte. Ein Ort, wo Bären überwintern und Wahnsinnige sich verstecken konnten. Jäh aus ihrem konzentrierten Traum von Fußspuren und abgefallenen Fichtennadeln gerissen, bemerkte Anna, wie dämmrig es inzwischen war. Die Luft war kalt geworden, und der Ort, an den die Spuren sie geführt hatten, war ausgesprochen einsam. Ihre Absicht war gewesen, die Person zu verfolgen und aufzuspüren – nicht es auf eine Auseinandersetzung ankommen zu lassen. Dazu brauchte sie Verstärkung in Form von vielen kräftigen Parkpolizisten. Deshalb war es vermutlich das Ratsamste, wenn sie sich diskret aus dem Staub machte.
    Ein fremdartiges Geräusch durchdrang diese Gedanken. Es war kaum mehr als ein Raunen, Nadeln, die sich aneinander rieben, dazu das Rascheln von Stoff an Rinde. Dennoch kreischte es durch Annas angespannte Sinne wie ein Sturm, der in den Hochspannungsleitungen pfeift. »Pssst«, flüsterte sie sich zu, obwohl sich bis auf das rasende Pochen ihres Herzens in ihr nichts bewegte oder Lärm erzeugte. Lautlos wich sie im Krabbengang vom Höhleneingang zurück und lehnte sich an den Felsen. Das Geräusch war nicht von drinnen gekommen, sondern ein Stück den Hügel hinaufgeweht. Aus der entgegengesetzten Richtung, aus der sie eingetroffen war.
    Die Sonne war längst verschwunden. Das verbleibende Licht war von der klaren, grauen Beschaffenheit, die einen daran erinnert, dass der Himmel keine blaue Kuscheldecke ist, die sich über die Erde breitet, sondern nur der Anfang kalter und unvorstellbarer Weiten. Da Anna sich sehr allein und schutzlos fühlte, spielte sie mit dem Gedanken, ihr Funkgerät aus dem Rucksack zu holen und ihre Position durchzugeben. Das hätte sie schon vor Stunden tun sollen, hatte es aber wegen ihrer konzentrierten Spurensuche vergessen. Nun stellte sie fest, dass sie nicht wagte, sich zu bewegen oder die beim Herumkramen und Sprechen unvermeidlichen Geräusche zu verursachen. Wenn sie unsichtbar und unbemerkt blieb, konnte ihr niemand etwas anhaben.
    Weil ihr die Vorstellung Angst machte, in einem schwer mit Trinkwasser und Schlafsack bepackten Rucksack mit Außengestell festzustecken, öffnete sie den Brustgurt, lehnte den Rucksack an den Felsen und schlüpfte aus den Trageriemen. Fünf Sekunden Gescharre, ein dumpfer Aufprall, und sie war frei. Keuchend, als hätte sie gerade eine gewaltige und kräftezehrende Aufgabe bewältigt, spitzte sie wieder die Ohren, um trotz ihres Atmens und ihres klopfenden Herzens etwas zu hören.
    Das perlende Klappern fallender Kiesel ließ sie aufblicken. Im nächsten Moment ergoss sich ein feiner Regen aus Steinchen von dem Hügel, an den sie sich drückte. Darauf folgten ein gepresstes Grunzen und das laute Knirschen rutschender Steine.
    Vorsichtig machte Anna einen Schritt weg von dem Felsvorsprung und schaute nach oben. Zwanzig Meter über ihr stemmte eine dunkle, gedrungene, geduckte Gestalt, kein Bär, aber im dämmergrauen Abendlicht auch kein Mensch, die Schultern gegen einen etwa einen Meter zwanzig hohen und ebenso breiten Felsen.
    Der Steinchenregen endete, und in der plötzlichen Stille bemerkte Anna, dass der Felsen zunehmend den Halt auf dem instabilen Untergrund verlor, zu rollen begann und dabei kleinere Steine mitriss. Der Felsvorsprung, neben dem sie stand, war zu niedrig und nicht senkrecht genug, um Schutz vor einem Steinschlag zu bieten. Nicht einmal vor einem kleinen.
    Während es nicht empfehlenswert war, vor einem Bären davonzulaufen, war die Flucht vor Menschen fast immer eine gute Idee. Ohne nachzudenken oder nach dem Rucksack mit Wasser und Funkgerät zu greifen, rannte Anna den Berg hinunter. Dabei versuchte sie der Rollbahn des Felsens auszuweichen, in der

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