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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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meinetwegen. Allerdings würde es ein Mann mit einer Schaufel und einem Rucksack wohl kaum schaffen, die Lilien auszurotten.
    Nichts wies darauf hin, dass es sich beim Mottenausgräber und Lilienschänder um ein und dieselbe Person handelte, abgesehen davon, dass Menschen, die sich an den natürlichen Nahrungsquellen von Bären vergriffen, ein eigenartiges Verhalten an den Tag legten. Es kam nur selten vor, dass man eine Person bei diesem Tun ertappte. Dass sich gleich zwei hier herumtreiben sollten, war statistisch betrachtet unmöglich. Der junge Mann mit dem reizenden Lächeln und den verdächtigen Gewohnheiten war kein Bärenforscher. Sonst hätte Joan ihn gekannt. Zumindest war er kein Bärenforscher, der im Glacier arbeitete.
    War es plausibel, dass ein halbwüchsiger, verbrecherischer Forscher den Bären im Park in mörderischer Absicht nachstellte? Obwohl die Idee an sich abwegig war, verwarf Anna sie nicht sofort, sondern legte sie auf den Haufen der anderen absurden Aspekte dieses Falls, der sich inzwischen in ihrem Gehirn angesammelt hatte.
    Weil sie fror und müde war und außerdem in wenigen Stunden die Sonne untergehen würde, musste Anna an Werwölfe denken. Obwohl sie als aufgeklärte Nordamerikanerin nicht an die Existenz dieser legendären Ungeheuer glaubte, wusste sie als Schwester einer prominenten Psychiaterin, dass auf den vom Mond beschienenen Straßen tatsächlich Verrückte umherstreiften, die sich allen Ernstes für Werwölfe hielten. Nicht wenige Menschen litten unter dem Wahn, ein Tier zu sein. Und in seltenen, jedoch dokumentierten Fällen lebten die Betroffenen ihre Psychose aus, indem sie töteten, ihrem Opfer die Kehle aufschlitzten und sein Blut tranken, wie sie es bei einem Wolf angebracht fanden. War es möglich, dass sich ein Mensch einbildete, er sei ein Grizzly? Warum nicht? Es gab ja auch Leute, die überzeugt waren, Napoleon, die Jungfrau Maria oder ein wiedergeborener Michelangelo zu sein. In Mississippi hatte Anna mit einer Frau zu tun gehabt, die beteuert hatte, sie habe acht Kinder, allesamt Pinguine.
    Weshalb also nicht ein Bär?
    Konnte die Psychose, wie bei einer ausgewachsenen Lycanthropie, so weit voranschreiten, dass der Kranke versuchte, als Bär zu leben, zu fressen und zu töten?
    Anna erinnerte sich an die Nacht, in der ein Bär ihr und Joan einen Besuch abgestattet hatte. Sie hatten beide kein Tier gesehen, sondern nur Geräusche gehört und sie als die eines Tieres gedeutet. Einzig und allein Rorys Schilderung wies auf die Anwesenheit eines Bären hin. Und Rory war nicht unbedingt das Musterexemplar eines Menschen, der einen kühlen Kopf behielt.
    Eine tiefe und abscheuliche Angst stieg in Anna hoch, sodass ihr flau im Magen wurde. Da sie und Buck unterwegs waren, um Ruick zu helfen, war Joan im Lager mit Rory Van Slyke allein – und der war ein ausgezeichneter Kandidat für den Bärenjungen.
    »Moment mal«, sagte sich Anna, um sich zu beruhigen. Rory hätte zwar eine ganze Menge von Dingen anstellen können, hatte aber keine Gelegenheit gehabt, einen marineblauen Stoffsack zum Gletscherkreis zu schleppen. Außerdem hatte er die Lilien nicht ausgegraben. Offenbar hatten die Höhenluft, die Einsamkeit und der lange, anstrengende Tag eine zersetzende Wirkung auf ihr Gehirn.
    Man erzeugt durch Selbsthypnose einen tranceähnlichen Zustand, der dem Bewusstsein Zugriff auf die Ängste und Wunschbilder des Unterbewussten gestattet. Diesen Satz hatte Anna Molly vor zehn Jahren in einer Vorlesung in Yale sagen hören. Damals hatte sie die Äußerung für einen wundervoll formulierten Haufen Mist gehalten. Inzwischen war sie nicht mehr so sicher.
    »Werbären«, verkündete sie laut, um sich durch Spott aus ihrer gruseligen Stimmung zu reißen.
    Es funktionierte nicht. Was war mit dem fehlenden Fleisch, das jemand so sorgfältig von Mrs Van Slykes Gesicht abgetrennt hatte? Hatte der Täter ein Messer anstelle von Zähnen und Klauen benutzt, um der Beute essbares Fleisch abzuschneiden? Eine faszinierende, wenn auch makabre Vermutung. Viele der inzwischen bekannten Tatsachen widersprachen der Theorie vom Werbären: das fein säuberliche Abschneiden und Lagern des Fleisches, der gestohlene Film, der Umstand, dass die Leiche bewegt und versteckt worden war.
    Anna schob diese Gedanken beiseite und wandte sich der Aufgabe zu, die Person mit der Schaufel aufzuspüren. Die Schaufel war ein beruhigender Hinweis auf geistige Gesundheit. Ein Mensch, der so schwer geisteskrank war,

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