Blutköder
um es mitzuerleben.
Ungeschickt sortierte sie ihre Füße und stand mühsam auf, bis ihr Kopf und ihre Schultern über den Sims ragten, und ließ aus dieser Perspektive die schwarzgraue frühmorgendliche Welt auf sich wirken. Kein Bewaffneter lauerte in der Nähe, um ihr den Kopf wegzupusten. Ausnahmsweise war es einmal nicht windig. Die Morgenstille war so überwältigend, dass Anna schon fast befürchtete, über Nacht ertaubt zu sein, wäre da das Knacken ihrer Gelenke beim Aufrichten nicht gewesen.
Nirgendwo zwitscherten Vögel, plätscherte Wasser oder raschelten Eichhörnchen im Laub, die taten, was Eichhörnchen um diese Uhrzeit eben so trieben. Allmählich wurde Anna sich eines leisen Schmatzens bewusst, das die idyllische Ruhe durchdrang. Es war ihre eigene Zunge, die versuchte, genug Speichel zu erzeugen, um ihre Kehle anzufeuchten.
Als ihr ihr Durst wieder zu Bewusstsein kam, war da plötzlich eine Wasserflasche. Sie war die ganze Zeit da gewesen, ohne dass Anna sie in der Morgendämmerung bemerkt hatte. Wie eine Fata Morgana ragte sie, einsam und keine zehn Meter von ihrem aus der Klippe gestreckten Kopf entfernt, aus dem Boden. Die Flasche stand allein auf einem Felsen, von dem der Wind die Nadeln gefegt hatte. Sie sah aus wie ein Köder, eine ungeschickt gestellte Falle.
Anna hatte bei ihrer wilden Flucht den Berg hinunter kein Wasser bei sich gehabt. Sie hatte die Flasche weder fallen gelassen noch in ihrer Hast vergessen. Also hatte sich jemand in die Nähe ihres Verstecks geschlichen und sie deponiert, während sie geschlafen hatte. Welcher Mensch versuchte erst, jemanden mit einem Felsbrocken zu zermalmen, schoss dann auf ihn und folgte ihm zu guter Letzt zu seinem Unterschlupf, um ihn mit Wasser zu versorgen? Doch die Angst verflog, bevor sie Besitz von ihr ergreifen konnte. Es musste ein guter Mensch, eine ihr wohlgesonnene Macht gewesen sein, die ihr das Wasser gebracht hatte. Außer, das Wasser war vergiftet. Absurd. Schließlich wäre es um einiges einfacher gewesen, ihr im Schlaf mit einem Stein den Schädel einzuschlagen, als Wasser zu vergiften und es ihr anzubieten.
Nachdem Anna den noch immer menschenleeren oberen Rand der Klippe mit Blicken abgesucht hatte, betrachtete sie wieder die Flasche. Es war ihre eigene und stammte aus dem vergessenen Rucksack. Denn auf der Flasche stand, mit rotem Nagellack, der unauslöschbarsten aller Substanzen, um etwas zu markieren, und in Blockbuchstaben der Name PIGEON .
Anna hatte das Gefühl, zu träumen. Es war so stark, dass ihr alles vor den Augen verschwamm und sie in dem engen Raum ins Taumeln geriet, bis ihre Beckenknochen schmerzhaft mit Gestein in Berührung kamen. Wie in einem schlechten Zeichentrickfilm fuhr sie zurück und rieb sich mit den Fäusten die Augen. Doch als sie wieder hinschaute, war die Erscheinung noch immer da und wirkte aufgrund ihrer Alltäglichkeit umso bizarrer.
Sie musste an die verirrten Jungen und den vergifteten Kuchen denken. Hänsel und Gretel und das Pfefferkuchenhaus. Einen steifen und durchgefrorenen Zentimeter nach dem anderen schob Anna sich aus ihrer Felsspalte wie eine Eidechse, die zu lange keine Sonne mehr gesehen hat. Die Ritze, in die sie sich gezwängt hatte, war nicht mehr als eine flache, senkrechte Lücke in der Felswand, wo ein rechteckiges Stück Stein abgebrochen war. Auf Händen und Knien kroch Anna zur Wasserflasche. Sie widerstand der Versuchung, danach zu greifen und sich den Inhalt in die Kehle zu gießen, und untersuchte sie stattdessen. Sie war weiß mit blauer Beschriftung. Anna hatte sie geschenkt bekommen, als sie im letzten Frühjahr Mitglied im Fitness-Studio in Clinton geworden war. Die Flasche war genauso, wie Anna sie in Erinnerung hatte, mit Ausnahme von zwei Einstichen etwa auf halber Höhe des Korpus. Einer hatte das Plastik nur eingedrückt, der andere durchbohrte es. Wäre die Flasche nicht ordentlich aufrecht abgestellt worden, das Wasser wäre sicher ausgelaufen.
Bissspuren. Anna erinnerte sich an ihren Traum von den tapsenden Tatzen und dem Hundeatem. Also ein Bär, kein Traum. Ein Bär hatte ihr Trinkwasser gebracht. Als sie dieses unwirkliche Bild, das einem Märchen entsprungen zu sein schien, auf sich wirken ließ, wurde ihr schwindelig. Anna beobachtete, wie ihre Hand sich der Flasche näherte und wie ihre Finger sich um das kalte Plastik schlossen. Dann zog sie den Verschluss nach oben und trank.
Falls das Wasser vergiftet war, Schicksal. Sie hätte zehn Leben
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