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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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dass er sich nachts für einen Bären hielt, hätte gewiss mit den Händen gegraben.
    Sechs Uhr: Die Zeit war um, aber Anna war noch nicht fertig.
    Sie befreite ihr Gehirn von allem nicht am Boden Sichtbaren und versetzte sich in den Spurenleserzustand, einen stillen Ort, wo man so lange verharren konnte, wie nötig war, um auch das winzigste Zeichen zu deuten. Die mit der Schaufel ausgehobene Rinne war frisch. Höchstens vierundzwanzig Stunden alt.
    Die feine Erdschicht an der Unterseite der umgedrehten Steine war an der Oberfläche trocken. Doch wenn man daran kratzte, waren noch Reste von Feuchtigkeit zu spüren. Als Anna die Steine vorsichtig wendete, stellte sie fest, dass die Motten, die echte Bären aufleckten, von Menschenhand entfernt worden waren, denn die bei der Ernte hinterlassenen Fingerspuren waren klar zu erkennen. Der marineblaue Beutel hatte Anna verraten, dass der Mottensammler hier gewesen war. Hatte er den Beutel benutzt, um die Motten für den späteren Verzehr aufzubewahren? Oder hatte er die Motten wie ein Bär im Freien und Stein für Stein verspeist?
    Was Anfang und was Ende der ausgehobenen Rinne war, konnte man nicht feststellen. Eine Weile kauerte Anna reglos da und überlegte, aus welcher Richtung die Person, die hier gegraben hatte, wohl am wahrscheinlichsten gekommen war. Gewiss aus derselben wie sie, von Süden her auf dem Highline Trail. Also begann sie am entgegengesetzten Ende der Rinne im Geröll, wo sich der Unbekannte vermutlich zuletzt aufgehalten hatte. Auf den Fersen hockend betrachtete sie den Boden und wartete.
    Die tief stehende Sonne eignete sich ausgezeichnet zum Spurenlesen. Außerdem war der Urheber der Rinne bis auf Anna sicher der einzige Mensch, der in den letzten Jahren hier gewesen war. Anderenfalls wäre es bestimmt nicht möglich gewesen, unter derart undankbaren Bedingungen Spuren zu entdecken.
    Der Abdruck eines Profils im Staub, halb überdeckt von dem einer gewaltigen Tatze. Dazu eine gerade, glatte Schramme, die nur von der Seite eines Schuhs aus Leder oder Gummi stammen konnte. Vier Meter weiter stieß Anna auf einen richtiggehenden Wegweiser: ein einzelner Stein, umgedreht mit dem kantigen Werkzeug. Warum ausgerechnet dieser Stein, konnte Anna nicht sagen. Vielleicht hatte der Mensch ungewöhnlich viele Motten darunter vermutet.
    Ein Schnaufen wie von einer kleinen Dampflok, die sich einen Hügel hinaufquält, riss sie aus ihren Gedanken. Sie wusste noch, ehe sie hinsah, was das Geräusch verursacht hatte. Schließlich hatte sie es in der Nacht des Bärenangriffs auch gehört. Furcht, plötzlich, neu und doch vertraut, glitt ihr von der Kehle bis zum Bauch und in die Gedärme hinunter.
    Die Bären kehrten zur Futterstelle zurück.

17
    Anna atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Das Luftholen fiel ihr nicht leicht, denn ihre Brust hatte sich in eine Zwangsjacke aus Muskeln verwandelt. Beim zweiten Versuch klappte es besser. Mit Sauerstoff gestärkt, blickte sie langsam in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Am östlichen Rand des Gletscherkreises, etwa auf halber Höhe des Hangs, stand eine Bärin mit zwei in diesem Jahr geborenen Jungen und beobachtete sie. Dabei schwankte sie hin und her, verlagerte das Gewicht von Tatze zu Tatze und beschrieb mit dem Kopf gemächliche Bögen. Die Jungen waren weniger konzentriert, schauten erst ihre Mutter, dann Anna an und warteten auf Anweisungen.
    Anna hatte ein Knie auf den Boden gestützt. Mach dich groß, erinnerte sie sich. Steh auf, schwenk die Arme über dem Kopf und rufe so laut wie möglich, hatte man ihr eingeschärft. Vermeide Blickkontakt, stell dich seitlich hin, verhalte dich so wenig bedrohlich wie möglich, hatte es geheißen. Setz dich, steh auf, kämpf, kämpf, kämpf, hallte ihr der alte Schlachtruf ihrer Highschool in den Ohren und löste in ihr das übermächtige Bedürfnis aus loszukichern. Beinahe wenigstens. Nicht rennen. Das war Regel Nummer eins.
    Wieder holte sie Luft und spürte zu ihrer Überraschung, dass die übermächtige Angst nachließ. Das hier waren wirkliche, waschechte Bären bei hellem Tageslicht, die das taten, was Bären normalerweise zu tun pflegten. Also viel weniger furchterregend als ihre vorherigen Grübeleien über halbwahnsinnige Menschen, die sich für Tiere hielten. Und auch weniger furchterregend als tobende Bestien, die einen nachts heimsuchten.
    Annas Blick wanderte von dem Trio zu ihrem Fluchtweg, dem Pfad, dem sie zum westlichen Ende des

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