Blutköder
dafür gegeben, um diese flüchtige Magie des Augenblicks nicht zu verpassen.
18
Weil Anna wirklich großen Durst hatte, konnte sie den Weg des Wassers die Kehle hinunter nachvollziehen und spürte, wie es sich im Magen ausbreitete, durch dessen Wände sickerte, ihr Blut verdünnte und ihre Haut straffte. Nicht die kleinste Spur von Gift. Nichts und niemand kam aus dem Wald gesprungen, um sich auf sie zu stürzen, während sie trank. Das Wasser war keine Falle, sondern ein Geschenk, das sie ebenso dankbar machte wie verwirrte.
Nachdem die körperlichen Bedürfnisse befriedigt waren, konnte der Verstand wieder weiter denken als nur bis zum nächsten Schluck. Die Flasche in der Hand – sie war zwar inzwischen leer, aber wegen der Bissspuren viel zu interessant, um sie zurückzulassen –, setzte Anna sich in Bewegung. Teils tat sie das, um ihren Kreislauf anzuregen, teils da sie, Geschenk oder nicht, keine Lust hatte, an einem Ort zu verweilen, der ihr beinahe zum Verhängnis geworden wäre.
Während sie langsam in den Wald schlenderte, wo das Morgenlicht die Schatten noch nicht vertrieben hatte, legte sie sich einen groben Plan zurecht. Ohne das auf so wundersame Weise erschienene Wasser hätte sie sich sofort auf den Weg in tiefere Lagen gemacht, wo es Zeltplätze und Bäche gab. Doch angesichts des ihr nun vergönnten Aufschubs wollte sie zu ihrem aufgegebenen Rucksack zurück. Nicht – wie sie sich schwor –, um Bösewichte aufzuspüren, gefangen zu nehmen oder gar zum Kampf herauszufordern, sondern um sich unbemerkt umzuschauen und ihre Sachen zu holen – auch die 35-Millimeter-Kamera, die den Film mit Aufnahmen der Stiefelabdrücke des Angreifers enthielt. Oder die von Gunga Din, dem Wasserträger aus einem Gedicht von Rudyard Kipling. Konnte es ein und dieselbe Person gewesen sein, die den Felsen angeschubst und ihr das Wasser gebracht hatte? Das ergab noch weniger Sinn als Annas Vorstellung von einem gutmütigen Meister Petz, der so freundlich gewesen war, ihre Wasserflasche zwischen den Zähnen zu ihr zu tragen.
Anna ließ sich Zeit, lauschte ihren eigenen Schritten und achtete darauf, dass sich stets Bäume oder Steine zwischen ihr und dem Felsvorsprung befanden, wo ihr Rucksack stand. Dabei beschrieb sie einen großen ellipsenförmigen Bogen, um sich der Stelle aus nördlicher Richtung und von oben zu nähern. Diesmal würde sie es sein, die sich anpirschte.
Durch das Gehen und die Rückkehr des Sonnenlichts stellte sich ihr inneres Gleichgewicht wieder ein. Das leichte Brennen des Hungers in ihrem Leib war ein willkommener Begleiter, der sie daran erinnerte, dass sie noch lebte und angenehme Dinge vor sich hatte. Eine halbe Stunde später hatte sie den Umweg zu dem Punkt hinter sich, wo ihre kopflose Flucht am Vorabend begonnen hatte. Oberhalb und rechts vom Eingang der Höhle – wenn es denn eine war – machte sie es sich gemütlich und lehnte sich mit dem Rücken an einen grüngoldenen Felsen, der sich in der Sonne rasch erwärmte. Die Äste zweier Fichten, ineinander verschlungen wie zwei streitende Liebende aus uralter Zeit, bildeten einen durchbrochenen Wandschirm zwischen ihr und der Welt.
Vor Blicken verborgen wie eine Haremsdame, konnte Anna alles gefahrlos beobachten. Allmählich fand sie Spaß an der Sache, wie es sich für einen Menschen gehörte, der in einem idyllischen Park einen Platz in der ersten Reihe ergattert hatte. Ihr Rucksack stand nicht dort, wo sie ihn zurückgelassen hatte, sondern war drei bis fünf Meter weit mitgeschleppt worden. Jemand hatte den Schlafsack ausgepackt, entrollt und beiseite geworfen. Der Rucksack selbst war offen, der Inhalt ausgekippt. Aus der Entfernung konnte Anna nicht feststellen, was fehlte. Ihr schoss durch den Kopf, dass der Unbekannte sicher die Kamera – oder zumindest den belichteten Film – mitgenommen und vernichtet hatte. Wahrscheinlich war ihrem Funkgerät ein ähnliches Schicksal beschieden gewesen. Sie hoffte, dass ihre Aufzeichnungen übersehen worden waren.
Der vom Berg auf sie hinuntergestoßene Felsen war etwa sechs Meter unterhalb des Rucksacks zum Stillstand gekommen. Unter dem gewaltigen Stein ragten die zerknickten Äste eines kleinen Baumes hervor. Von Annas erhöhtem Aussichtspunkt aus war es nicht schwer, sich diese Äste als die schuppigen und mageren Arme und Beine einer zermalmten Hexe vorzustellen. Anna ließ sich ins Reich des Zauberers von Oz entführen und stellte fest, dass die Beine der Hexe verschrumpelten
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