Blutköder
Gletscherkreises gefolgt war. Sie war fast dort. Vielleicht dreißig Meter entfernt. Dann ein einfacher Aufstieg einen etwa zweieinhalb bis drei Meter hohen Hang hinauf. Dahinter befand sich eine fünfzig Meter lange Geröllhalde, die an der Reihe struppiger Fichten, der Baumgrenze, endete. Nicht, dass die Bäume sie gerettet hätten. Sie waren viel zu schwächlich zum Hinaufklettern, falls sie das Glück haben sollte, sie überhaupt zu erreichen.
Anna war der Bärin auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, eine Erkenntnis, die eine merkwürdige Ruhe in ihr auslöste. Wer nichts unternehmen konnte, war von der Verantwortung befreit, Pläne schmieden zu müssen. Sie riskierte einen kurzen Blick und nickte der Bärin fast unmerklich zu, überließ ihr das Schlachtfeld und widmete sich wieder ihrer Spurensuche. Minuten vergingen, bis ihre Konzentration zurückkehrte und sie wieder etwas sehen konnte. Die Augen in ihrem Hinterkopf nahmen wahr, wie die Bärin angriff. Doch sie hörte nichts. Anna zwang sich, sich nicht umzudrehen und sich, langsam und wie zuvor dicht am Boden, weiterzubewegen. Sie hielt Ausschau nach Hinweisen auf den Menschen, der vor ihr hier gewesen war und gegraben hatte.
Als sie, noch immer ungefressen, den niedrigen Hang erreichte, riskierte sie noch einen Blick. Die beiden Jungen tollten im Geröll herum. Im hellen Licht der Abendsonne konnte Anna ihre kräftig rosafarbenen Zungen erkennen, mit denen sie die Motten von den Unterseiten der von ihrer Mutter umgedrehten Steine ableckten. Mama Bär grub nicht, sondern trottete zwischen ihren Jungen und Anna hin und her. Immer wenn sie eine Strecke hinter sich gebracht hatte und kehrtmachte, schaute sie Anna an.
Offenbar war eine Vereinbarung getroffen worden. Wenn Anna sich leise trollte, durfte sie am Leben bleiben. Da ihr der Vorschlag gefiel, nahm sie an und kletterte so unauffällig wie möglich den Hang hinauf, um hinter einem einen guten halben Meter hohen Sims aus dem Gesichtsfeld der Bärin zu verschwinden.
Nachdem es Anna gelungen war, sich wohlbehalten aus dem Staub zu machen, setzte die Reaktion ein, und ihr wurde klar, dass sie sich der Bärin nicht mit dem zenartigen Gleichmut hingegeben hatte wie zunächst angenommen. Erleichterung ergriff sie, bis sie sich ein wenig hysterisch fühlte und am liebsten gleichzeitig gelacht und geweint hätte. Schließlich tat sie keines von beidem, sondern lag nur in den schwächer werdenden Strahlen der Hochgebirgssonne und ließ kurze und wortlose Dankesgebete aus ihrem Verstand zu den Göttern emporsteigen, die ihre schützende Hand über Bären und Parkpolizistinnen hielten.
Als diese höfliche Geste abgehakt war, wandte Anna sich wieder irdischeren Belangen zu. Die Zeit war irgendwann zwischen dem Entdecken der menschlichen Spuren und dem Abschied von der Grizzlyfamilie von ihrer kleinlich festgelegten Bahn abgewichen. Zwei Stunden waren verflogen wie ein nach Westen ziehender Vogelschwarm. In einer halben Stunde würde die Sonne untergehen. Bereits jetzt war das Licht so schlecht, dass es die Spurensuche erschwerte.
Es war Zeit, aufzuhören und einen Lagerplatz für die Nacht zu finden. Doch Anna machte sich wieder an die Arbeit. Das Spurensuchen hatte etwas Suchterzeugendes an sich, das sie an das Verspeisen von Maischips erinnerte. Nur noch einen, dann ist Schluss. Jedes Mal, wenn Anna auf einen teilweise erhaltenen Fußabdruck, eine Schramme oder eine Einbuchtung im Geröll, also einen Hinweis auf einen beschuhten Schritt, stieß, ertappte sie sich bei diesem Versprechen.
Unterhalb des Cathedral Peak wurde der Berg breiter und flacher, sodass sich genug Erde angesammelt hatte, um Pflanzen Halt und Mensch und Tier einen begehbaren Untergrund zu bieten. Der Mensch, den Anna verfolgte, hatte den Weg des geringsten Widerstands gewählt und war, im schrägen Winkel zum Gipfel, die Baumgrenze entlang bergab marschiert.
Trotz des schwächer werdenden Lichts erleichterte der Boden das Spurenlesen beträchtlich. Bei jedem Schritt auf dem steil abfallenden Hang hatte die Person einen Abdruck hinterlassen. Anna folgte den Spuren gemächlich und blieb nur zweimal bei einem besonders deutlichen Stiefelabdruck stehen, um ihn zu fotografieren. Zumindest verfügte sie nun über greifbare Informationen: Wanderstiefel mit Waffelprofil, Größe dreiundvierzig bis vierundvierzig, nicht mehr ganz neu und mit einem auffälligen Abnutzungsmuster an der Innenseite der Absätze, so als habe der Träger der Schuhe
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