Blutköder
Hoffnung, dass diese gerade sein würde. Wegen des Krachens, das sie selbst beim Laufen verursachte, und des polternden Felsens konnte sie nicht feststellen, ob der gesamte Berg im Begriff war, über ihr zusammenzustürzen. Vielleicht war das Ungeheuer, halb Mensch, halb Tier, dem Felsen ja auch gefolgt und ihr nun auf den Fersen. Nur ein Geräusch übertönte alle anderen. Der unverkennbare Knall eines Schusses. Es war zwar nur einer, genügte aber, um Anna zu einer Geschwindigkeit anzutreiben, wie drohende Gesteinslawinen und Grizzlys es niemals vermocht hätten.
Ohne sich umzudrehen, zu stürzen oder stehen zu bleiben, erreichte Anna den Wald aus verkrüppelten Bäumen und den Sims auf der Klippe, die das Hochland von den gastlicheren Gefilden ein gutes Stück unterhalb der Baumgrenze trennte.
Sie sackte in sich zusammen. Ein rascher Blick zurück sagte ihr, dass kein Verfolger in Sicht war. Inzwischen waren die knorrigen Bäume in eine Nacht gehüllt, die unter ihren Ästen zu entstehen und in den sich verdunkelnden Himmel aufzusteigen schien. Anna kroch in eine Felsspalte in der bröckeligen Wand und bedeckte Mund und Nase mit den Händen, um das Geräusch ihres Luftholens zu dämpfen. Reglos verharrte sie und lauschte.
Mit dem Verschwinden der Sonne hatte der Wind aufgefrischt. Er pfiff aus den Tälern hinauf und strich klagend über die schartigen Felsen, zwischen denen Anna kauerte. Das Atmen der Berge und die Bemühungen ihrer eigenen Lungen raubten ihr das Gehör, während Ungeduld und Angst sie dazu verlocken wollten, den Kopf aus der Felsspalte zu stecken.
Anna hatte nicht mehr die Kraft zum Weiterlaufen. Außerdem war es zu dunkel, um gefahrlos eine trügerisch bröckelige Wand hinunterzuklettern. Da Stöcke und Steine ihre einzige Waffe waren, hielt sie sich an die Lektion, die sie von Häschen, Entlein und den anderen hilflosen Geschöpfen in freier Wildbahn gelernt hatte, und blieb in ihrem Versteck. Allmählich wurde ihr Atem wieder langsamer. Knie und Schultern gegen die Seiten der Felsspalte gestemmt und mit geneigtem Kopf, lauschte Anna dem Heulen des Windes.
Nichts. Und nichts bewies auch nichts. Anna machte es sich so gut wie möglich bequem. Weil Hast, nicht der Gedanke an Komfort, die Wahl ihres Unterschlupfs beeinflusst hatte, war in ihrer engen Felsspalte kaum Platz genug für all ihre Körperteile. Außerdem reichte er eindeutig nicht, um eine schmerzfreie Position einzunehmen. Dennoch war Anna froh über ihr Versteck und hatte es deshalb nicht eilig damit, in den Wald zurückzukehren und ein besseres zu finden.
Die Dunkelheit webte ihr nur mäßig hilfreiches Tarnnetz. Die Felswand zeigte nach Süden und hatte die Hitze des Tages gespeichert, sodass Anna nicht erfrieren würde, obwohl ihr ziemlich kalt war. Spitze Steine bohrten sich in ihre linke Gesäßhälfte und unter das rechte Schulterblatt, doch zumindest konnte sie sich ein wenig bewegen und somit verhindern, dass ihr Beine und Füße einschliefen.
Sie lauschte, döste, wurde abwechselnd von Selbstmitleid und Wut ergriffen und nickte wieder ein. Ein Krachen, ein Knacken, zwei aneinanderschlagende Holzstücke oder die geträumte Erinnerung an den Schuss weckte sie. Aber Lauschen führte nur zu Ohrenschmerzen, sodass sie erneut wegdämmerte. In ihrem Traum hörte sie die leisen Schritte eines gewaltigen Bären vor ihrem notdürftigen Grab. Der Bär war so nah, dass sie sein fragendes Schnauben hören und seinen Atem riechen konnte. Hundeatem, träumte sie. Widerwärtig und vertraut.
Gegen drei Uhr wurde der Durst ihr größtes Problem. Anna war ohne Wasser geflohen und hatte sich beim Rennen sehr verausgabt. Dabei hatte sie, sowohl hier als auch im Laufe ihres Berufslebens, ihre Erfahrungen mit den üblichen Beschwernissen eines Lebens fernab der Zivilisation gemacht: Hitze, Kälte, Hunger, Höhenluft, wundgescheuerte Füße, Insektenstiche, stachelige Pflanzen. Doch am beharrlichsten war der Durst. Der Körper wusste, dass er Stiche, Juckreiz, Schmerzen und eine Zeit lang sogar Hunger überleben konnte. Wasser hingegen war ein Muss.
Fest entschlossen, bis zum Tagesanbruch in ihrem Versteck zu bleiben, vertrieb Anna sich die Stunden damit, mit Fingern und Zehen zu wackeln und sich jeden Gedanken an irgendeine Form von Flüssigkeit zu verbieten. Gegen fünf begann sich die Dunkelheit vor der Öffnung ihrer Felsspalte allmählich zu lichten. Trotz Annas düsterer Vorahnungen ging die Sonne wieder auf – und sie war noch da,
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