Blutköder
war verrückt, ihn retten zu wollen.
»Du bleibst hier«, sagte Anna und hob die von Joan fallen gelassene Taschenlampe auf.
»Es ist zwar zu dunkel, um etwas zu erreichen, aber ich kann am Waldrand Ausschau nach … etwas Ungewöhnlichem halten.«
»Ich will aber nicht.«
Anna war durchaus in der Lage, sich so lange selbst etwas vorzumachen, bis sie bereit war, ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen. Doch ihr Talent zur Selbsttäuschung ging nicht soweit, dass sie auch andere gefährdet hätte.
»Du musst«, antwortete sie. »Falls Rory fliehen konnte, zurückkommt und keine von uns beiden vorfindet, wird er durchdrehen. Das weißt du genau.«
»Wenn Rory davongelaufen wäre, hätte der Bär ihn verfolgt«, beharrte Joan. »Das ist bei Bären immer so.«
Anna konnte nicht mehr still sitzen. »Bleibst du?«
»Meinetwegen.«
Am Rand der Lichtung wurde Anna von einer neuen eiskalten und schmerzhaften Welle der Angst ergriffen. Sie stand neben dem kleinen Bächlein, wo das Mondlicht das Gras in einen silbrigen Schein tauchte. Das Plätschern des Wassers über die Steine klang wie Musik in ihren Ohren, als sie, unfähig, sich zu rühren, in die undurchdringliche, gnadenlose Nacht zwischen den Föhren starrte.
Seit ihrer Kindheit fühlte Anna sich Tieren tief verbunden. Noch nie hatte sie sich vor ihnen gefürchtet. Mit zunehmendem Alter hatte sie gelernt, ihre Lebensweise zu achten und ihre Grenzen nicht zu überschreiten, um sie und sich selbst nicht in Gefahr zu bringen. Mit dem Tier, das ihr Zelt umkreist und ihr Lager verwüstet hatte, war es hingegen etwas anderes. Obwohl es jeglicher Logik widersprach, fühlte Anna auf einer Ebene, die mit Gegenargumenten nicht zu erreichen war, dass es mit ihnen gespielt hatte. Das wiederholte Umkreisen, die plötzlich aufflammende Wut und die rasende Gewalttätigkeit, gefolgt von schlagartiger Ruhe vermittelten den Eindruck, dass ein böswilliger Plan hinter dem Überfall steckte.
Walt Disney hatte gelogen. Die Gebrüder Grimm waren es, die die richtige Sicht der Dinge hatten: Hexen steckten kleine Mädchen in den Ofen, Stiefmütter vergifteten sie, und Bären fraßen sie auf.
»Reiß dich zusammen«, flüsterte Anna. Ihr schwindelte von dem Albtraum, den sie sich gerade zusammengereimt hatte. »Ein Bär ist ein Bär ist ein Bär.« Ihr fiel ein, dass sie den Bären vielleicht dämonisierte, um eine Ausrede zu haben, damit sie nicht über den Bach in den Wald treten musste.
»Mach Krach.« Joans Stimme erinnerte Anna an ihre Pflichten.
»Ja«, erwiderte sie. Das Ziel war nicht, sich an den Bären anzuschleichen, sondern ihn zu verscheuchen, falls er noch in der Nähe sein sollte.
»Rory«, schrie Anna und »Hallo, Bär.« Sie wechselte zwischen den beiden Sätzen, während sie sich unter den tief hängenden Ästen der ersten Föhre durchduckte. Zwischen den Rufen spitzte sie die Ohren. Sie war aus keinem besonderen Grund ausgerechnet hier in den Wald gegangen. Falls der Bär auf der Wiese Spuren hinterlassen haben sollte, hatte sie sie in der Dunkelheit nicht gesehen. Aber irgendwo musste sie ja anfangen.
Da Anna inzwischen seit vielen Jahren in Nationalparks arbeitete, machte sie sich, was ihre eigenen Fähigkeiten betraf, keine Illusionen. Auch bessere Pfadfinder als sie hätten sich, ohne die Möglichkeit, sich an einem Kompass oder anhand der Sterne zu orientieren, nachts in diesem Wald verirrt. Die Lichtung stets links in Sichtweite, umrundete Anna die Wiese. Als sie wieder am Ausgangspunkt angelangt war, hatte sie nichts gefunden. Es war zu verdammt dunkel.
»Anna!«, rief Joan.
»Hier!« Sie leuchtete in Richtung Lagerplatz und trat zwischen den Bäumen hervor. Die Suche war so vergeblich gewesen, wie sie befürchtet hatte. Joans Stimme war der Auslöser, sie abzublasen.
»Der Bär hat ihn nicht verschleppt. Wenigstens nicht aus diesem Zelt.«
Joan war so glücklich über diese frohe Erkenntnis, dass Anna nur ungern nachhakte. »Wie kommst du darauf?«
»Der Reißverschluss. Schau.«
Während Anna die kleine Lichtung überquerte, hielt Joan die zerfetzten Überreste von Rorys Zelt und Regenschutzklappe hoch. »Beides offen. Bären öffnen keine Reißverschlüsse. Keine Daumen. Keine Geduld.« Sie lachte, als die Last, für den Tod des Jungen verantwortlich zu sein, – zumindest für den Augenblick – von ihr abfiel.
Annas Gedanken waren so düster, dass sie sich gegen die Zuversicht wehrte, als handle es sich um eine Falle. »Rory hätte bei
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