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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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getötet und aufgefressen worden waren wie in Night of the Grizzlies.
    Sie hielt die Lippen so dicht an Joans Gesicht wie eine Liebhaberin. »Was tut er?«, hauchte sie kaum hörbar.
    »Keine Ahnung«, flüsterte Joan zurück.
    Die Umkreisungen stoppten, wie aufgehalten von dem Klangfaden, den die beiden Frauen zwischen sich gespannt hatten. Das Schweigen, das darauf folgte, war in der völligen Dunkelheit des Zelts undurchdringlich. Anna wurde schwindelig, als sei sie im Begriff, in die Finsternis hineinzustürzen. Ihre Sinne streckten die Fühler aus: Blinde Augen versuchten, zwei Schichten Zeltbahn zu durchdringen. Taube Ohren bemühten sich, Bewegungen jenseits der dünnen Wände aufzufangen.
    Das deutliche Rascheln, als Joan sich auf die Ellbogen stützte, schabte so heftig an Annas Nerven wie Schmirgelpapier an sonnenverbrannter Haut. Da kein Sekundenzeiger die Zeit maß, verstrich sie nicht tickend, sondern pulsierte, weitete sich aus und zog sich wieder zusammen wie die Luft in Annas mühsam atmender Lunge.
    »Glaubst du …«, raunte sie.
    Holz knackte.
    »Pssst.«
    Im nächsten Moment durchschnitt ein Knurren über ihnen die Nachtluft; beide Frauen schrien auf. Das Knurren wurde lauter und bewegte sich das Zelt entlang. Bei seinen Runden beugte sich der Bär nun vor, sodass er das Zelt nicht mehr nur streifte, sondern es mit seinem Gewicht eindrückte. Anna spürte, wie sich etwas Formloses und Beängstigendes fest gegen Schulter und Kopf presste.
    Hände – die von Joan – betasteten die Vorderseite ihres Sweatshirts und umklammerten den Baumwollstoff. »Runter«, zischte sie. »Zusammenrollen.«
    Anna fielen die erlernten Verhaltensregeln wieder ein. Totstellen. Die weiche, weiße Unterseite schützen. Sich zusammenkrümmen, obwohl jede Faser ihres Körpers danach schrie, aus diesem von der Firma North Face hergestellten Sarkophag auszubrechen und loszurennen. Bauch und Beinmuskeln verkrampften sich schmerzhaft.
    Das Knurren verebbte und schwoll wieder an, hallte aber in eine Richtung, als stünde das Tier vor dem Reißverschluss des Eingangs, führe Selbstgespräche und überlege, ob es sie töten oder am Leben lassen sollte.
    Anna zermarterte sich das Gehirn, was sie wohl getan haben mochte, um den Bären anzulocken und sich so lange seiner Aufmerksamkeit zu erfreuen. Nichts. Von Joan mit Argusaugen beobachtet, hatten sie und Rory alles, was einen Bären auch nur im Entferntesten interessieren könnte, in dem roten Bärenrucksack verstaut: Lippenpomade, Insektenspray, Sonnencreme, Deo, Zahnpasta, buchstäblich alles, was flüssig war und/oder einen Eigengeruch hatte. Joan bestand darauf, dass selbst Dinge, die sich in geschlossenen Glasbehältern befanden, in die Bärentasche wanderten, die, gemeinsam mit den Lebensmitteln, fünfzehn Meter vom Lagerplatz entfernt aufgehängt wurde.
    Die im Geiste geführte Liste riss jäh ab, als der Bär wütend brüllte. »Verdammte Scheiße«, sagte Anna. Ihre eigene Stimme machte ihr Angst. »Glaubst du, er ist verletzt oder hat Schmerzen?«
    »Mein Gott, hoffentlich nicht«, erwiderte Joan mit Nachdruck.
    Ein Schlag traf das Zelt. Dann hörten sie, wie Nylon zerriss.
    »Scheiße«, wiederholte Anna.
    »Still.«
    Das Ratschen von Nylon. Gebrüll, das durch die Dunkelheit hallte und Anna bis ins Gedärm drang. Joans Atmen und Schluchzen an ihrem Hals. Ihr eigenes Keuchen und Weinen an Joans Schulter.
    Der Radau vor dem Zelt schien eine schiere Ewigkeit anzudauern, obwohl es in Wahrheit vermutlich nur halb so lange war. Gepolter. Knurren. Das Aufplatzen von Stoff. Krachen. Offenbar stieß oder warf der Bär Gegenstände umher. Zischen und Flattern. Graben. Tiefes, kehliges Grunzen, begleitet vom Lärm zerstörerischen Tobens. Stöße gegen das Zelt und den Boden, als wühle das Ungetüm die Erde auf.
    »Was zum Teufel …?«, flüsterte Anna.
    »Ich blicke auch nicht durch«, raunte Joan.
    Ein ohrenbetäubendes, angriffslustiges Gebrüll ganz in der Nähe, gefolgt von einem wilden Einschlagen erst auf die eine, dann auf die andere Seite des Zelts. Anna spürte eine Platzwunde an der rechten Schulter.
    Blut. Nun würde es nach Blut riechen.
    Der leichte Metallrahmen des Zelts brach unter dem zweiten Ansturm zusammen, sodass etwas Schweres Annas Nacken traf. Aus Gewohnheit oder Instinkt schützte sie ihr Gesicht mit dem Arm und drängte sich enger an Joan.
    Das Tier war außer Rand und Band. Es war die rasende Wut der Natur, die sich dem Menschen entgegenwarf. Im

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