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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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offenem Zelt schlafen können«, wandte sie ein.
    Joan warf ihr einen Blick zu, dessen spöttischen Ausdruck man selbst im gespenstischen Mondlicht erkannte. »Bestimmt.«
    »Klar. Bestimmt.« Natürlich nicht. Die Moskitos waren zwar gegen elf verschwunden, weil ihnen die sinkenden Temperaturen nicht gefielen, doch Rory hatte sich sicher dennoch gegen die furchterregende Außenwelt in seinem Zelt verbarrikadiert. Dünner, von Menschen gemachter Stoff gegen zwölf Zentimeter lange, von Gott geschaffene Krallen – Sicherheit war nur eine Illusion.
    Offene Reißverschlüsse mussten nicht bedeuten, dass Rory nichts zugestoßen war. Sie waren nur ein Hinweis darauf, dass der Bär ihn nicht aus seinem Zelt geschleppt hatte. Andere, nicht minder grausige Szenen liefen vor Annas geistigem Auge ab. In seiner Panik war der Junge vielleicht aus dem Zelt geflohen und von dem Bären verfolgt worden. Das hätte das plötzliche Ende des Angriffs auf ihr Zelt erklärt. Zwar hatte Anna nichts dergleichen gehört, doch sie hätte auch nicht schwören können, dass sie sich nicht wie ein kleines Kind die Ohren zugehalten hatte. Es konnte auch sein, dass Rory bei der Ankunft des Bären sein Zelt gerade verlassen hatte, etwa, um zu pinkeln. In diesem Fall hätte er entkommen können. Allerdings bestand auch die Möglichkeit, dass ein Geräusch oder eine Bewegung von ihm den Bären weg vom Lagerplatz in seine Richtung gelockt hatte.
    Diese Alternativen zu einer Rettung durch den Reißverschluss würden Joan noch früh genug einfallen. Anna war nicht sicher, wie sie dann reagieren würde. Der hysterische Schrei – »Luke!« – gellte Anna noch immer in den Ohren. Mutterschaft war für sie eine fremde Welt. Wer vermochte zu sagen, von welchen Formen des Wahnsinns sie bevölkert wurde?
    »Etwas Heißes zu trinken«, verkündete sie: das Allheilmittel gegen alle Unbilden der Wildnis.
    »Sollten wir nicht … Wir müssen doch …« Verwirrt suchte Joan nach etwas zu tun. Die Logik siegte. »Okay.«
    Froh, aktiv werden zu können, ging Anna zu ihrem gestrigen Sternbeobachtungsfelsen, der ihr inzwischen auf beunruhigende Weise wie ein Opferaltar erschien. Dort hatten sie die Bärentasche aufgehängt. Jeder Schritt in Richtung der schwarzen Dunkelheit zwischen den Bäumen ließ ihr die Angst in die Eingeweide schießen. Es war noch schlimmer als Angst: eine urwüchsige, körperlich spürbare Todesfurcht vor der Finsternis und den fleischfressenden Ungeheuern, die dort seit Hunderttausenden von Jahren lauerten. Ihr nachzugeben hätte bedeutet, in eine Höhle in ihrem Verstand zu kriechen, die sie nie wieder von innen sehen wollte. Sie erinnerte sich noch gut an die kalten, kahlen Wände in Mississippi, wo ein Mann sie beinahe totgeschlagen hätte.
    Anna zwang sich, nur an die nächsten Sekunden und die anstehende Aufgabe zu denken, um ihre Furcht auf eine Stufe zu senken, die ihre Leistungsfähigkeit nicht beeinträchtigte. Die Augen offen, die Ohren gespitzt und auf jede Bewegung im Wald achtend, plauderten sie und Joan über Belanglosigkeiten, menschliche Geräusche, die ein Bär – ein normaler Bär – als unangenehm empfinden würde.
    Während Anna das Seil von dem Baumstamm löste und die Bärentasche herunterließ, wurde sie von Panik ergriffen. Plötzlich stand ihr ein Bild vor Augen, wie sie selbst, mit Lebensmitteln beladen, zur unwiderstehlichen Zielscheibe wurde. Die Schatten im Wald ballten sich zu funkelnden Zähnen und spitzen Klauen zusammen.
    Sie pustete den Gedanken weg, als wäre es Giftgas, und beobachtete den roten Rucksack – ohne Sonnenlicht farblos –, der sich über ihr aus der Schwärze löste und zu Boden sank.
    * * *
    Nachdem sie sich erst einmal von der Vorstellung gelöst hatten, der Duft von Constant-Comment-Tee könnte den sicheren Tod zwischen den Bäumen hervorlocken, schmeckte das heiße Getränk allmählich und zeigte wie stets seine Wirkung. Die Nacht war noch immer kalt, das verwüstete Lager weiterhin ein grausiger Anblick. Aber als Anna und Joan in ihren warmen Daunenschlafsäcken dasaßen und den Rücken an den zuverlässigen Felsen lehnten, legte sich ihre Angst ein wenig. Anna musste ihre Gedanken nicht mehr an die kurze Leine legen, während die Forscherin in Joan ihre Mutterschaft zurück in ihre Schublade steckte. Rory Van Slyke wurde nicht erwähnt. Bis die Sonne aufging, war er in den Händen der Götter. Oder im Magen des Raubtiers.
    »Du bist ja verletzt«, stellte Joan fest. »Dein

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