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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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erschießen, wenn du Schaum vor dem Mund kriegst?«
    »Keine Pistole.«
    »Ich überlege mir etwas.«
    Sie dachten eine Weile über dieses Thema nach. Anna erinnerte sich an Szenen aus Mein Freund Jello. »Ich wünschte, wir hätten den Bären gesehen«, meinte sie nach einer Weile.
    »Das werden wir vielleicht noch«, entgegnete Joan. Im Futur anstatt in der Vergangenheitsform klang es nicht annähernd so erstrebenswert.
    Schweigend saßen sie im fahlen Dämmerlicht, bis es um halb sechs hell genug war, um sich wieder mit dem Jungen und dem Bären zu beschäftigen.
    Beide Zelte waren zerstört. Anna und Joan breiteten sie aus, um den Schaden in Augenschein zu nehmen. Für ein Tier, das sich keine Belohnung in Form von Futter versprach, hatte der Bär ganze Arbeit geleistet. Rorys Zelt wies einige Risse von einem halben bis einem Meter Länge auf, die von der Spitze der Kuppel bis zum Boden reichten. Auch Annas und Joans Zelt hatte einen Riss.
    Rings um die Zelte war der Boden aufgewühlt. Ein Stoffsack, der Werkzeuge zum Bau von Zäunen enthielt, war völlig zerfetzt. Die Utensilien lagen verstreut im Gras. Rorys Tagesrucksack, seine Kleider und sein Schlafsack waren aus dem Zelt gezerrt und auf die Lichtung geworfen worden.
    Nachdem sie die Habe des jungen Earthwatchers so gut wie möglich zusammengesucht hatten, war die Bestandsaufnahme an der Reihe: Die Sachen, die er am Vortag getragen hatte, sowie seine Stiefel, die Baseballkappe, dreieinhalb Paar Socken, vier Unterhosen, Shorts, T-Shirts, Turnschuhe, Wasserflasche, also sein gesamtes Gepäck, waren logischerweise vorhanden. Es fehlten nur die Jogginghose, ein T-Shirt und die weichen, flachen schwarzen Schuhe zum Hineinschlüpfen, wie man sie in jedem Chinaladen preiswert bekam und die er am Vorabend angehabt hatte.
    Falls er dem Bären entronnen war, würde die Wildnis ihn umbringen, sofern sie ihn nicht so schnell wie möglich fanden. Nur mit einem Schlafanzug und dünnen Schuhen bekleidet, ohne Lebensmittel und bei nächtlichen Temperaturen um die zehn Grad hatte er es sicher nicht sehr gemütlich gehabt. Allerdings wären seine Chancen in der Wüste sogar noch geringer gewesen, da es im Gletscherhochland wenigstens Wasser gab. Mit ein wenig Glück und Gelassenheit würde er nicht verdursten.
    Joan funkte die Parkzentrale an und gab in kurzen, knappen Sätzen die Informationen durch, die nötig waren, um Rory Van Slyke zu suchen. Der Funkverkehr nahm zu, als ein Parkpolizist nach dem anderen telefonisch aus dem Bett geholt und per Funk zur Arbeit beordert wurde. Bei Sonnenaufgang würde es eine Aufgabe wie jede andere sein, den Vermissten aufzuspüren. Anna und Joan wollten vom Lagerplatz aus beginnen. Sechs Mitglieder des Bärenteams planten, sich zu Pferd auf den Weg zu machen. Der Ranger, der in der Hütte im Hinterland auf halbem Weg zum Waterton Lake stationiert war, würde zu ihnen stoßen.
    Angesichts der nächtlichen Ereignisse war es ziemlich wahrscheinlich, dass Rory entweder tot war oder recht schnell unweit des Lagerplatzes gefunden werden würde. Die Maschinerie wurde deshalb in Bewegung gesetzt, weil einzig und allein die Zeit zählte, falls er sich tatsächlich verirrt oder verletzt überlebt hatte.
    Um halb sieben reichte das Licht, um Spuren zu verfolgen. Allerdings glaubte Anna nicht, dass ihre Fähigkeiten ihr im dichten Unterholz etwas nützen würden, denn sie hatte ihre Erfahrungen hauptsächlich in der Wüste gesammelt. Ein entscheidender Vorteil war jedoch, dass ihre Beute schätzungsweise zweihundert Kilo wog. Joan war zwar keine ausgebildete Spurenleserin, hatte jedoch den Großteil ihres Erwachsenenlebens damit verbracht, den Tatzenabdrücken von Bären zu folgen.
    Im klaren grauen Licht und noch nicht behindert von den Schatten, die jeder Gegenstand bei Sonnenschein warf, standen die beiden Frauen, die Tagesrucksäcke voll mit Lebensmitteln, Wasser und Verbandsmaterial, am Felsen.
    »Dort.« Joan zeigte nach Südwesten.
    »Ich sehe es.« Schwache, längliche Abdrücke, die verschwinden würden, sobald die heiße Sonne den Tau trocknete, bildeten eine unregelmäßige Linie im Kreis der Bäume, wo die zusammengepackten, zerfetzten Zelte lagen. Der Bär war durchs hohe Gras gestreift.
    Langsam näherten sie sich dem kaum sichtbaren Pfad, bezogen zu beiden Seiten Position und gingen, den Blick zu Boden gerichtet, los.
    »Kein Kot«, stellte Joan fest.
    »Ist das ungewöhnlich?«
    »An diesem Bären ist alles ungewöhnlich. Kacken

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